Schagdardshawyn
Nazagdordsh
und sein Roman
„MANDCHAI DIE KLUGE“
Renate Bauwe
Sch. Nazagdordsh (1918-2001), langjähriger Direktor des Instituts für
Geschichte und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der
Mongolischen Volksrepublik, ist vor allem als Historiker bekannt. Sein
wissenschaftliches Interesse galt besonders dem mongolischen
Mittelalter, dem er auch seine beiden Hauptwerke, „Die Geschichte der
Chalch“ (1963) und „Grundzüge des mongolischen Feudalismus“ (1978)
widmete. Seit den vierziger Jahren stellte er auch einzelne Gedichte,
Erzählungen und Stücke vor, die jedoch weniger bekannt wurden.
Schriftstellerischen Ruhm brachte ihm eigentlich erst sein bis dahin
umfangreichstes Werk ein, der 1982 beim Staatsverlag in Ulaanbaatar
erschienene historische Roman Mandchai zezen (dt. „Mandchai die Kluge“,
Verlag Volk und Welt, Berlin 1989, aus dem Mongolischen übersetzt von Renate Bauwe). Die außerordentlich starke Resonanz, die das Buch bei
den mongolischen Lesern fand, ist berechtigt: sprach „Mandchai“ doch
wie kaum ein anderer mongolischer Roman die Lesebedürfnisse eines
breiten Publikums an. Vor allem kam der historisch interessierte Leser
auf seine Kosten. Menschlich anrührend ist das ungewöhnliche Schicksal
der legendären Herrscherin, die dem Wohle des Staates ihr Liebes- und
Lebensglück opferte.
Der Roman erhellt ein literarisch-künstlerisch noch nahezu
unerschlossenes Kapitel der mongolischen Geschichte. Er führt uns ins
15. Jahrhundert, eine Zeit, in der die Nachkommen Tschingis Chaans ihre
letzten erfolgreichen Versuche unternahmen, das, was vom Weltreich
geblieben war, mit Diplomatie oder mit Waffengewalt zusammenzuhalten.
Dabei gewinnt der Leser auch Einblick in die wechselhafte Geschichte
der mongolisch-chinesischen Beziehungen. Ein ganzes Jahrhundert
(1271-1368) hatte das große Nachbarland China die Herrschaft der
Mongolen ertragen müssen. Seitdem versuchten die Ming-Kaiser ihrerseits
– teils durch ökonomischen Druck und bewaffnete Überfälle, teils
dadurch, dass sie Zwistigkeiten zwischen den mongolischen Adligen
schürten – die Mongolei zu schwächen und unter ihre Macht zu zwingen.
Gleichzeitig macht der Roman die Veränderungen im geistigen Bereich
deutlich, die das 15. und 16. Jahrhundert charakterisieren: Noch kann
sich der Schamanismus behaupten, noch verteidigt er verbissen seine
Positionen gegen den Lamaismus, die zusehends an Einfluss gewinnende
neue Religion. Der Schamane Natschgai verkörpert das Konservative, das
reaktionäre Element, das Unterstützung bei den Kräften findet, die
Humanismus und politischem Realismus entgegenwirken und die
Unabhängigkeit des Landes gefährden. Das inhumane Wesen des
Schamanentums äußert sich im Roman z. B. darin, dass beim Tode eines
kleinen Prinzen „nach alter Sitte“ hundert Kinder und hundert junge
Kamele geopfert werden sollen, damit das Land vom Weinen und Klagen der
Mütter widerhallt. Doch bald wird deutlich, dass auch der Lamaismus
nicht „unpolitisch“ ist und dass die Bevölkerung in ihrer Hoffnung auf
bessere, gerechte Verhältnisse nicht auf die Lamas bauen kann.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund schildert der Autor das Leben
der Fürstin Mandchai, über deren Wirken mittelalterliche Chroniken mit
Ehrfurcht und spürbarer menschlicher Anteilnahme berichten.
Kaum siebzehnjährig, wird die schöne, liebenswerte Mandchai von ihrer
Familie und ihrem Liebsten Önöbold (Unubold) getrennt und gegen ihren
Willen zur Nebenfrau des Herrschers Manduul Chaan gemacht. Sie soll dem
Chaan einen Thronerben schenken, denn die ältere Gemahlin hat keine
Kinder geboren, und der Thron droht zu verwaisen. Mandchai empfindet
diese Aufgabe als entwürdigend. Erst später erkennt sie die politische
Bedeutung ihrer Mission. Sie begreift, dass nur ein rechtmäßiger
Thronerbe blutige Bruderkriege unter den mongolischen Fürsten
verhindern könnte, die das Land schwächen und seinen Feinden in die
Hände treiben würden. Leidtragender aber wäre letztlich das mongolische
Volk. Mandchai bekommt eine Tochter. Als Manduul kurz darauf stirbt,
muss sie der Sitte entsprechend – und wiederum gegen ihren Willen – die
Regentschaft übernehmen.
Der einzige noch lebende Nachkomme Tschingis Chaans und damit
rechtmäßiger Anwärter auf den Thron ist der etwa zwölfjährige
kränkliche Knabe Batmunk. Seinen Vater Bajanmunk, einst von Manduul
Chaan mit der Regierung über die „Westvölker“ beauftragt, hatte Manduul
selbst in einem Anflug von Eifersucht ermorden lassen. Der skrupellose,
machthungrige Uigure Nisman, Beamter am Hofe des Chaans, nimmt
Bajanmunks Witwe zur Frau. Den Sohn, den sie ihm gebärt, lässt er in
China verstecken, um ihn zu gegebener Zeit als Kind Bajanmunks
auszugeben und mit seiner Hilfe selbst die Macht zu ergreifen.
Mandchais Boten machen jedoch den leiblichen Sohn Bajanmunks ausfindig.
Nun könnte sie sich von dem unfreiwillig übernommenen Amt als Regentin
zurückziehen und ein Leben mit Önöbold, ihrer Jugendliebe, beginnen.
Voller Enttäuschung muss sie jedoch erkennen, dass Önöbolds Liebe
keinesfalls so selbstlos ist, wie sie glaubte. Auch er spekuliert auf
den mongolischen Thron. Als Nachkomme Chasars, eines jüngeren Bruders
Tschingis Chaans, fühlte Önöbold sich ewig vom Schicksal benachteiligt.
Nun sieht er eine Chance und hofft, mit Mandchais Hilfe Chaan zu
werden. Mandchai durchlebt eine schwere Zeit. Ihr getreuer Berater
Satai drängt sie zu einer Entscheidung. Da opfert sie sich ein zweites
Mal, um dem Lande den Frieden zu erhalten. Sie heiratet den
schwerkranken kleinen Batmunk und nimmt weiterhin mit Satais Hilfe die
Regierungsgeschäfte wahr.
Batmunk wird gesund und wächst zu einem launischen, naiven,
oberflächlichen Jüngling heran. Von Kindheit an zart und schwach,
träumt er jetzt nur noch davon, einmal richtig Krieg zu führen.
Mandchai und Satai haben es mit seiner Erziehung nicht leicht.
Plötzlich entdeckt Mandchai, dass der kleine Chaan kein Kind mehr ist.
Zwischen beiden entbrennt eine leidenschaftliche Liebe, die Mandchai
ihre Regierungsgeschäfte versäumen lässt. Vor kurzem erst hatten die
Chinesen das Land überfallen. Jetzt wollen sich die „Westvölker“, von
Nisman aufgewiegelt, selbständig machen, so dass die inzwischen
hochschwangere Mandchai sich gezwungen sieht, persönlich einzugreifen,
um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Auf dem Rückweg von den
„Westvölkern“ bringt sie Zwillinge zur Welt und kehrt stolz und
glücklich heim. Doch wie groß ist ihre Enttäuschung! Während ihrer
Abwesenheit hat Batmunk, ihr Gemahl, eine zweite Frau genommen, und
dieser gehört nun seine Liebe. Mandchais Leben ist fortan durch
Eifersucht auf die hübsche, blutjunge Rivalin Altdshin vergällt.
Politisch bleibt sie jedoch aktiv und lenkt anstelle Batmunks das
Geschick des mongolischen Staates, bis dieser reif genug für dieses Amt
ist. Zwei Bewährungsproben hat sie noch zu bestehen: Als Altdshins Kind
stirbt, ist sie es, die den Mord an hundert unschuldigen Kindern und
damit einen Aufstand der empörten Bevölkerung verhindert. Wenig später
beweint sie den Tod eines ihrer eigenen Söhne, der einem Attentat zum
Opfer gefallen ist. Einen letzten Höhepunkt der Romanhandlung, der mit
diesem Attentat in Verbindung steht, bildet eine erneute
Strafexpedition gegen die abtrünnigen Westmongolen. Statt zu einer
Schlacht kommt es jedoch zu einer Verbrüderung, bei der Batmunk seine
alte Mutter wiedertrifft und mit seinem Halbbruder Frieden schließt.
Jahre später stirbt Mandchai, inzwischen etwa fünfzigjährig, infolge
eines Giftanschlags.
Die Romanhandlung wird im wesentlichen durch den Konflikt zwischen
Zentralgewalt und Partikularkräften bestimmt, womit ein wesentlicher
Widerspruch der Feudalgesellschaft reflektiert wird. Als Verdienst des
Autors kann zweifelsohne der Versuch betrachtet werden, den Konflikt
nicht nur in seinen äußeren, gesellschaftlichen Erscheinungen zu
erfassen, sondern (was bei weitem nicht in allen mongolischen Romanen
der Fall ist) ihn in den Aktionen und Reflexionen seiner Hauptgestalten
ästhetisch zu vertiefen und zu verdeutlichen. Freilich erreicht er
hierbei nicht immer die gewünschte psychologische Tiefe.
Der gesellschaftliche Aspekt dieses Konflikts wird vor allem durch die
Gegenüberstellung Mandchais und Nismans verdeutlicht. Mandchai vertritt
hierbei das Moment des Progressiven, des Positiven schlechthin.
Dementsprechend dominieren bei ihr, wie auch bei den ihr nahe stehenden
Personen (dem Minister Satai, dem Räuber Mjanchai und anderen) die
positiven Züge. Sie alle werden von hohen Idealen getragen und wirken
in dieser oder jener Weise auf das gleiche Ziel hin: auf die Erhaltung
von nationaler Integrität und Frieden. In dieser Hinsicht sind sie
weitgehend Interessenvertreter des mongolischen Volkes. Nisman und
seine Verbündeten (vor allem Önöbold) verkörpern das destruktive,
negative Element. Ihre Motive sind niedrig, und entsprechend schmutzig
sind ihre Mittel. Sie reichen von Heuchelei und Intrige bis zu offenem
Verrat und Mord an den eigenen Verbündeten.
Mit dieser Gegenüberstellung von Gut und Böse, Weiß und Schwarz –
nahezu ohne belebende Zwischentöne – folgt der Autor den didaktischen
Traditionen der mongolischen Literatur, die seit jeher deutlich auf
Vermittlung von Wissen und Erziehung des Rezipienten orientiert ist und
einer bestimmten Erwartungshaltung des an Volksdichtung ästhetisch
geschulten Lesers gerecht zu werden sucht.
Die gesellschaftlichen Widersprüche werden durch die zentralen
Gestalten unterschiedlich reflektiert und führen zu ganz spezifischen
persönlichen Entscheidungsproblemen. Mandchai gerät ins Spannungsfeld
zwischen persönlichem Glücksanspruch und Verantwortungsgefühl für
gesamtgesellschaftliche Belange, und ihre Größe beruht letztlich auf
ihrem persönlichen Opfer. Eine interessante Reflexion finden die
gesellschaftlichen Widersprüche auch im Schicksal Mjanchais, des guten
Räubers, der den Reichen nimmt, um den Armen zu geben, einer
romantischen, volkstümlichen Figur, die in der mongolischen Literatur
häufig anzutreffen ist. Mjanchai lebt mit der Illusion von der
absoluten Freiheit der Persönlichkeit; über sich will er keinen Herrn,
unter sich keinen Untergebenen dulden. Durch die Umstände zum
ritterlichen Beschützer Mandchais geworden, kommt er in Konflikt mit
sich selbst. Er kann nicht der angebeteten Herrscherin dienen und
gleichzeitig als Räuber und Rebell gegen ihre Gesetze verstoßen.
Schließlich nähert er sich der Erkenntnis, dass es in dieser
Gesellschaft keine wirkliche Freiheit geben kann und dass man als
einzelner, vom Volk isoliert, nichts gegen die soziale Ungerechtigkeit
auszurichten vermag. Sein Versuch, die Freiheit des Räubers gegen die
Freiheit eines Mönchs einzutauschen, erweist sich als komischer Irrtum.
Erst als er sich von seinen Bindungen zu Mandchai völlig löst, findet
er als Hirt und Familienvater ein bescheidenes Glück. Was wie
Resignation und Flucht aussieht, ist doch der einzige Weg für ihn,
seinen einstigen Idealen treu zu bleiben und für die Interessen der
einfachen Menschen mit Aussicht auf Erfolg wirken zu können.
Der Roman gewinnt seinen aktuellen Bezug vor allem dadurch, dass der
Widerspruch zwischen Zentralmacht und Partikularkräften gleichzeitig
als Kollision von Kräften des Friedens, der Vernunft und des Humanismus
mit Kräften des politischen Abenteurertums gestaltet wird. Frieden wird
als eigentlicher Sinn der staatlichen Integrität verstanden, als
wichtigste Aufgabe, hinter der alle übrigen gesellschaftlichen und
individuellen Probleme zeitweise zurückgestellt werden müssen.
Es wird auch die Frage des gerechten und des ungerechten Krieges
aufgeworfen. Die Erörterungen dazu aus dem Munde eines im 15.
Jahrhundert lebenden chinesischen Bauern klingen allerdings wenig
überzeugend.
Der Roman hat also eine deutliche Orientierung auf welt- und
menschheitsgeschichtliche Fragen. Die Gedanken- und Gefühlswelt seiner
Helden interessiert den Autor offenbar weniger. So haben die
literarischen Gestalten insgesamt wenig Innenleben. Die Folge ist, dass
manche Seiten der Persönlichkeit Mandchais, z. B. ihre Rolle als
Mutter, dem Leser verborgen bleiben. Überhaupt bleibt Mandchai während
des ganzen Romangeschehens relativ passiv, sie ist mehr Lernende, auf
äußere Zwänge Reagierende und weniger Denkende, Fühlende, überlegt
Handelnde. In ihrer Rolle als Regentin, als die „Kluge Mandchai“,
vermag sie daher letztlich nicht ganz zu überzeugen. Dabei gehört ihr
ohne Zweifel die Sympathie des Autors. Er will ihr den legendären
Zauber und die Gloriole des Patriotismus nicht entreißen, und seine
zaghaften Bemühungen, diese Frau als Interessenvertreterin der
herrschenden Schicht zu charakterisieren, wirken meist etwas
unbeholfen.
Batmunk hingegen wird dem Ruf seines historischen Vorbilds kaum
gerecht. Als Chaan ist er unbedeutend, menschlich ohne
Ausstrahlungskraft. Das in der Schlussszene aufleuchtende Bild des
erfolgreichen, gütigen alten Chaans hat wenig Beziehung zu dem
infantilen, oberflächlichen Batmunk, den der Leser in den
vorangegangenen Kapiteln kennengelernt hat.
Was an psychologischer Tiefe bei der Heldengestaltung vermisst wird,
beeinträchtigt jedoch insgesamt wenig den Reiz dieses Romans, in dem
Legende und reale Geschichte dicht beieinander stehen. Ein sachkundiger
Autor vermittelt hier, gestützt auf eine interessante Fabel, ein
kontrastreiches, ausdrucksstarkes, realistisches Bild von der Mongolei
im 15. Jahrhundert.
Auf folgendes sei noch hingewiesen: Die Lebensdaten Mandchais und
Batmunks weichen in den überlieferten Quellen stark voneinander ab.
Dadurch bleibt dem Autor ein relativ breiter Spielraum für seine
Phantasie. Stellenweise verliert er jedoch, wie es aussieht, selbst den
Überblick. Als die Romanheldin Mandchai stirbt, ist sie – dem
mongolischen Original zufolge – über Fünfzig, und Batmunk hat die
Vierzig überschritten. Ihr Sohn aber – Mandchai war 25 bis 26 Jahre
alt, als er geboren wurde – tritt noch immer als Zwölfjähriger auf.
Unbegreiflich ist auch, wie Batmunk 30 Jahre nach Mandchais Tod seinen
80. Geburtstag begehen kann. Er dürfte zu diesem Zeitpunkt die Siebzig
kaum überschritten haben. In der deutschsprachigen Ausgabe versucht die
Übersetzerin, diese und einige andere, weniger auffallende
Unstimmigkeiten in der Chronologie auszugleichen.
(1987/2011)