Mongolische Literatur

S. Bujannemech

Eine wunderbare Begegnung (1)

War das ein Gewimmel, ein Lärmen von elektrischen Straßenbahnen und unzähligen Autos! Überall flatterten die Fahnen der siegreichen großen Revolution. Riesige Paläste, glänzend im farbenfrohen Schmuck edler Steine, Häuser, dicht an dicht wie Bäume im Wald, und dazwischen die vielen Menschen, Arbeiter und Bauern mit fröhlichen Gesichtern, die neuen Herren ihres Landes, mit Eifer am Werk, die vom Alter oder vom Krieg schadhaft gewordenen Gebäude der großen Stadt wiederherzustellen.
Manchmal fuhr ein sanfter Wind in die große rote Fahne auf dem Dach des Großen Kremlpalastes. Dann bauschte sie sich auf und begann bedächtig zu wehen. Den Eingang zum Palast schmückten prächtige steinerne Säulen, so glatt, dass man meinen konnte, sie wären aus poliertem Türkis und Lasurit. Und durch dieses Tor gingen ohne Pause Menschen ein und aus, die aus dem Fernen Osten kamen und sich in einem bunten Sprachengemisch unterhielten.
Weil sie sich anders nicht miteinander verständigen konnten, gestikulierten sie wie wild mit den Armen und nickten unablässig mit dem Kopf. Unter ihnen waren sieben oder acht muntere Burschen, alle blutjung und in nagelneue Deels aus weißgegerbtem Fell und gewaltige Fuchspelzmützen gekleidet. Jeder trug am Gürtel eine Mauserpistole und auf der Brust, aus Seide gestickt, einen großen roten Stern. Den Passanten auf der Straße fielen sie auf, doch diese wussten nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. „Chinesen!“, raunten sie sich gelegentlich zu.
Die jungen Männer indessen waren Delegierte der revolutionären mongolischen Jugend, Boten der neuen Mongolei, und sie hatten die weite Reise aus dem Osten Asiens bis nach Moskau unternommen, um am Ersten Kongress von Vertretern der Völker des Fernen Ostens teilzunehmen. Es war das Jahr 1922 und tiefster Winter, das heißt, eine Jahreszeit, zu der man eigentlich klirrenden Frost erwarten sollte; in Moskau aber taute der Schnee, kaum dass er die Erde berührte, und wurde zu Matsch, der unter den Füßen schmatzte. Darüber konnten sich die jungen Mongolen nicht genug wundern. Außerdem war es ihnen, obwohl sie inzwischen schon einige Tage hier verbracht hatten, noch immer nicht gelungen festzustellen, ob die Sonne am Himmel aufgegangen war oder nicht, ja, sie hätten nicht einmal sagen können, wo Norden und wo Süden war. Auch das gab ihnen immer wieder Anlass zu lautstarken Debatten und fröhlichem Gelächter. So spazierten sie durch die Straßen, fanden alles merkwürdig und wahnsinnig interessant, und jeder konnte ihnen ansehen, dass sie aus einem fernen Land kommen mussten. Einer von ihnen aber war ich, der Verfasser dieser Zeilen, in eigener Person.
Eines Abends, wir hatten gerade in unserem Quartier, einem riesigen Palast, zu Abend gegessen und uns unserer warmen Kleider entledigt, auch schon die Einzelheiten des Berichts besprochen, den wir vor dem Kongress halten wollten, und saßen nun still in unserem Zimmer – da klopfte jemand an die Tür, und herein trat mein guter alter Bekannter Schumjatzki (2).
Wir hatten längere Zeit zusammengearbeitet, als er in Irkutsk das Fernöstliche Sekretariat leitete.
Überrascht sprang ich auf und nahm seine Hand, doch er hatte es furchtbar eilig und sagte nur: „Eure beiden Delegationsleiter, der von der Partei- und der von der Jugenddelegation, sollen sofort mitkommen. Es gibt eine wichtige Besprechung.“ Also zog ich mich Hals über Kopf wieder an. Dann folgten wir ihm zu dieser so hochwichtigen Versammlung. Wir, das waren erstens Dandsan, den wir immer den „Japaner“ nannten – er vertrat die Partei – dann meine Person und als Dritter Genosse Ischdorsh, der uns als Dolmetscher begleitete.
Draußen wartete ein Omnibus. Wir stiegen ein, und ab ging es. Der Motor heulte ein paar Mal kurz auf, ein paar Hupsignale, dann riss schon wieder jemand die Tür auf und sagte: „Hier steigen wir aus.“
Auch die anderen Delegierten, die mit uns im Bus gesessen hatten, mussten aussteigen: Gäste aus China, aus Japan, Korea, Java und was weiß ich, woher noch. Ich hatte keinen blassen Schimmer von diesen Ländern, wusste nicht einmal ihre Namen, und viel weniger noch, wo sie lagen und wie weit es war bis dorthin. Wir standen vor einem großen weißen Haus, das in der Form an eine Stupa erinnerte. Wahrscheinlich irgendein Kongressgebäude.
Wir gingen hinter Schumjatzki her auf dieses weiße Gebäude zu. Vorerst kamen wir jedoch nur bis zum Portal. Dort standen zwei Soldaten mit Wintowkas (3). Man hieß uns warten, während Schumjatzki zu den gestrengen Wächtern ging, irgendeinen Ausweis aus der Brusttasche zog und ihn vorzeigte. Wir durften passieren. Drinnen aber standen schon wieder zwei Posten, und der gute Schumjatzki musste wieder seinen Ausweis zeigen. Die nächsten Posten standen im ersten Stock, gleich an der Treppe. Auf diese Weise gelangten wir durch einen sechs- oder siebenfachen Sicherheitsring zu guter Letzt in einen langen Korridor im siebenten Stock. Hier gab es eine Unzahl von Türen, nach Norden und nach Süden ausgerichtet, und vor jeder standen Tische und Stühle, wo Besucher warten konnten. Auch wir mussten warten. Unser Genosse Schumjatzki war, wenn ich mich richtig erinnere, in einem Raum mit der Tür nach Süden verschwunden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich wieder erschien und sagte, wir möchten eintreten. Stuhlbeine schurrten, alles erhob sich und ging hinein. Ich hielt mich ganz am Schluss.
Der Raum, den wir nun also betreten hatten, erwies sich als ein ganz normales kleines Zimmer. Ein älterer Herr, verhältnismäßig klein, mit einem großen kahlen Kopf und einem Bart von auffallend gelbem Blond – ein Russe, wie es schien – drückte nacheinander allen die Hand und lud sie ein, auf den geschwungenen, typisch russischen Stühlen Platz zu nehmen, die ringsherum entlang der Wände aufgestellt waren. Ganz zum Schluss begrüßte er mich – wobei mir auffiel, dass er ziemlich dicke Finger hatte – lächelte mir unsagbar freundlich zu und bat auch mich, Platz zu nehmen.
Da stellte sich heraus, dass alle seine Stühle schon besetzt waren. Nur am Schreibtisch stand noch ein Sessel, den er offenbar selbst zu benutzen pflegte. Dorthin zog mich der alte Herr und verlangte, dass ich mich setzte. Ich genierte mich, sagte, das sei doch nicht nötig, und wollte an der Tür stehen bleiben, aber das ließ unser Gastgeber nicht zu: Ich sollte mich unbedingt hinsetzen. Da dachte ich: Na gut, immerhin sind wir unter Freunden, und es ist ja auch nichts dabei, außerdem hatte ich keine Ahnung, wer dieser nette Herr eigentlich sein sollte, und machte es mir in seinem Sessel bequem. Jetzt aber hatte unser Gastgeber selbst keinen Platz mehr. Als Schumjatzki das bemerkte, stürzte er hinaus, brachte irgendeinen alten Stuhl angeschleppt und stellte ihn neben den Schreibtisch.
Unser alter Herr setzte sich dann auch mit größter Selbstverständlichkeit darauf und fing an, sich auf russisch, deutsch, englisch und französisch mit den Delegierten zu unterhalten, die im Kreis um ihn herum saßen. Ich verstand kein Wort, und so musterte ich erst einmal neugierig die Einrichtung des Zimmers. Besondere Schmuckstücke, die des Anschauens wert gewesen wären, gab es allerdings nicht. An der Ost- und an der Westwand stand je ein Schrank, mit Büchern vollgestopft, und auf dem einen, dem östlichen, prangte einsam eine Gipsbüste von Karl Marx, dem in Deutschland geborenen großen Lehrer der Revolution. Das war alles. Vor mir aber, auf dem Schreibtisch, türmte sich ein heilloses Durcheinander von Büchern und Zeitungen. Gerade antwortete der freundliche alte Herr mit ein paar Worten auf etwas, was ein japanischer Gast gesagt hatte, Da sprang der Japaner plötzlich auf und überschüttete uns mit einem leidenschaftlichen Wortschwall. Durch einen glücklichen Zufall saß Genosse Ischdordsh hinter mir. So konnte ich ihn fragen, worüber sich dieser japanische Delegierte denn so ereiferte. Genosse Ischdorsh erklärte mir: „Dieser Japaner ist Anarchist. Jetzt hat er versprochen, diese Haltung aufzugeben und Kommunist zu werden.“
Dass der Japaner ein solches Gelöbnis vor unserem Gastgeber ablegte und dass Schumjatzki, der doch immerhin etwas darstellte, die ganze Zeit neben diesem stehen geblieben war, machte mich nun doch stutzig.
„Sag mal, dieser alte russische Herr – wer ist das eigentlich? Kennst du ihn?“, wandte ich mich noch einmal an Ischdordsh.
Der grinste: „Das weißt du nicht? Das ist doch Lenin!“
Ich erstarrte. Ich fühlte, wie mein Kopf ganz fürchterlich anschwoll. Nein, sagte ich mir, unmöglich kannst du auf diesem Sessel sitzen bleiben. Mich überkam ein so gewaltiges Gefühl der Ehrfurcht, dass ich nicht dagegen ankam. Leise und vorsichtig stand ich auf, schob den Ischdordsh ein Stück zur Seite und quetschte mich mit auf seinen Stuhl. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Natürlich hatte ich schon von dem wunderbaren Lenin gehört, dem so innig verehrten, großen Führer des Proletariats, dem genialen Revolutionär, dem Premier der UdSSR und Vorsitzenden des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Bolschewiki …
Ich hatte von ihm gehört, hatte ihn bewundert, und jetzt, bei dieser unverhofften Begegnung, erkannte ich ihn nicht! Das Allerschlimmste aber: Ich hatte mich erdreistet, mich in seinen Sessel, an seinen Schreibtisch zu flegeln!
Lenin Bagsch (4) aber ahnte nichts von meiner Verlegenheit.
Schon öfter hatte ich Bilder von ihm zu sehen bekommen. Doch musste er dar-auf schwarzhaarig gewesen sein, viel größer und längst nicht so alt. Jetzt, wo er leiblich vor mir stand, hatte er plötzlich einen blonden Bart. Und er war so klein, hatte kleine Augen einen großen kahlen Kopf und solche dicken Finger! Ischdordh meinte, um die Stirn herum erinnerte er ihn an den Weißen Alten, unseren guten alten Schutzgeist, der hätte auch so eine rosige Glatze.
Wir überlegten gemeinsam, was wir sagen wollten. Währenddessen unterhielt sich Lenin-Bagsch weiter mit den Vertretern der anderen Länder. Er ließ keinen aus, sagte in seiner knappen, direkten Art zu jedem ein paar Worte. Schließlich wandte er sich dem Gast von der Insel Jawa zu, der neben uns saß. Ich hörte zu, wie sie miteinander sprachen.
„Von allen Völkern, die hier vertreten sind, ist unser jawanisches das kleinste“, sagte der Mann aus Jawa.
Da unterbrach ihn Lenin: „Einen Moment! Wieviel Einwohner hat Jawa eigentlich?“
„Zur Zeit etwa dreißig Millionen“, antwortete der Delegierte. Wir staunten nicht schlecht. Demzufolge wären ja eigentlich wir Mongolen das kleinste Volk!
Als Lenin sich dann bei uns nach der gegenwärtigen politischen Situation und der Lage der Bevölkerung erkundigte, berichteten wir in aller Kürze: Unser mongolisches Volk habe sich mit Hilfe des großen Nachbarlandes von der Fremdherrschaft befreit und eine konstitutionelle Monarchie geschaffen. Die derzeitige Situation zwinge uns, vorübergehend mit diesen alten feudalistischen Kräften zusammenzuarbeiten und in gemeinsamer Front mit ihnen unsere Unabhängigkeit gegenüber den äußeren Feinden zu schützen, und wir wüssten gern, ob er diese Politik für richtig halte.
„Sie ist richtig“, antwortete Lenin. „Nur kommt es darauf an, gleichzeitig die Auseinandersetzung mit den Imperialisten und den Pomeschtschiks (5), also den Feudalherren, zu führen. Diese feudalistischen Elemente kann man zwar mit einbeziehen, doch verlassen kann man sich auf sie nicht.“
Dann stellte unsere Delegation noch eine andere Frage: „Bei uns in der Mongolei gibt es zur Zeit nur zwei große Organisationen mit politischem Charakter: die Mongolische Volkspartei und den Revolutionären Jugendverband. Wir sind ein zurückgebliebenes Land mit besonderen Bedingungen. Die Bevölkerung lebt seit jeher von der Nomadenwirtschaft. Folglich gibt es weder eine Arbeiterklasse noch eine Klasse der Bauern und dementsprechend auch keine kommunistische Partei. Würden Sie uns bitte sagen, wie Sie diese Situation einschätzen?“
„Richtig“, antwortete Lenin. „Die Revolutionäre Volkspartei und der Jugendverband entsprechen genau der sozialen Struktur, die zur Zeit bei Ihnen in der Mongolei herrscht. Für eine kommunistische Partei ist es noch zu früh.“
Je länger wir über Lenins Worte nachdachten, desto deutlicher erschloss sich uns ihr tiefer Sinn. Mit dem Wenigen hatte er kein Wort zu wenig gesagt, das beeindruckte uns sehr.

…Was Lenin uns vor mehr als zehn Jahren (6) sagte, war richtig, das bestätigt die Geschichte unserer Revolution und das zeigt sich in diesen Tagen mit erstaunlicher Deutlichkeit … Lenin hat uns ein umfangreiches Werk hinterlassen, und alle aufrechten jungen mongolischen Revolutionäre sollten ihre Aufgabe darin sehen, dieses Werk noch gründlicher zu studieren und die revolutionären Errungenschaften des Volkes zuverlässig zu verteidigen. Dabei werden wir immer deutlicher erkennen, dass Lenins wunderbare Lehre niemals an Bedeutung verliert.
In dieser Überzeugung habe ich geflissentlich meine Erinnerungen aufgezeichnet und mich so einer Aufgabe entledigt, mit der mich die Redaktion der Zeitschrift des Zentralkomitees des Jugendverbandes betraut hatte.


(Übersetzung aus dem Mongolischen von Renate Bauwe)

 

Anmerkungen:

  1. Leicht gekürzt aus der Zeitschrift: Chuv’sgalt zaluučuudyn evlel, Nr. 1, 1935.  
  2. B. Schumjatzki: Außenminister und amtierender Premier der Fernöstlichen Republik; hatte als sowjetischer Delegierter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten engen Kontakt zur mongolischen Regierung.
  3. wintowka (russ.): Gewehr  
  4. Lenin-Bagsch: der „Lehrer“ Lenin
  5. Pomeschtschik (russ.):russ. Gutsbesitzer  
  6. Bujannemech schrieb diese Erinnerungen an den Winter 1922 erst 1935 nieder

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