S.
Bujannemech:
Über die alte Literatur
(1)
... Die Menschheit verfügt heute über ein beachtliches Wissen. Dieses
Wissen aber ist nicht urplötzlich entstanden, sozusagen aus dem Nichts
heraus – es wurzelt tief in der Vergangenheit, und es hat sich von
Generation zu Generation immer mehr verfeinert und vervollkommnet. So
sind die Erfahrungen der Menschheit aus Jahrhunderte und Jahrtausende
währender Tätigkeit auf die Gegenwart überkommen, wo sie in allen
Bereichen eine stürmische Entwicklung ausgelöst haben. Vor allem im
Gefolge der revolutionären Prozesse, die noch immer andauern, hat sich
das menschliche Wissen mit so ungeheurem Tempo erweitert, als hätte man
einen Motor an ein elektrisches Netz angeschlossen.
Nun meinen aber einige engstirnige oder übereifrige Zeitgenossen, dass
bis zu dem Tage, an dem sich die Revolution machtvoll zu entfalten
begann, alle Kultur ausschließlich der lamaistischen Kirche und dem
Feudaladel gedient habe, bzw. dass alles, was alt ist, obskur und
primitiv sei und dass wir deshalb des Althergebrachten, der Erfahrungen
der Vergangenheit, nicht mehr bedürften. Das hat nichts, aber auch gar
nichts mit Wissenschaftlichkeit im Sinne von Marx zu tun. Wenn wir uns
auf dem Boden der marxistischen Dialektik bewegen wollen, müssen wir
die Geschichte als einen Prozess betrachten, in dem sich die Menschheit
aufgrund ihrer Existenzbedingungen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in
obere und untere Klassen spaltete, in Klassen die gegeneinander
kämpften, und von denen jede einzelne ihre Interessen in der Literatur
zum Ausdruck gebracht hat. Das ist Grund genug dafür, dass sich die
Gelehrten und Schriftsteller von heute mit der Vergangenheit
beschäftigen, um Brauchbares von Unbrauchbarem zu trennen. Die
Ereignisse der Vergangenheit sind heute wie ein Spiegel, der uns hilft,
Überkommenes zu prüfen und zu begreifen. Es liegt uns fern, auf diese
Weise irgendjemanden zu Konservatismus verführen zu wollen.
Wie ist das gemeint? Man behauptet heute, der Feudaladel und die
Repräsentanten der buddhistischen Kirche hätten ihr Volk nach allen
Regeln der Kunst an der Nase herumgeführt und unterdrückt. Wenn man
aber der Frage nachgehen will, mit welchen literarischen Werken, mit
welchen anderen Aktivitäten, wie und nach welchen Gesichtspunkten sie
dies getan haben, dann muss man sich über ihr gesamtes Tun und Lassen
informieren, bis hin zu den schriftlichen Aufzeichnungen und
literarischen Arbeiten, und diese Informationen muss man
weitervermitteln.
Nun gehören aber zum Bestand der alten Literatur auch viele mündlich
überlieferte Geschichten und andere Werke, geschaffen von Vertretern
eben dieses unterdrückten Volkes oder von Verfechtern seiner
Interessen, wo auf feine, hintergründige Art der sittliche Verfall und
die Grausamkeit der damaligen Nojone (2)
und Lamas ans Licht gebracht werden. Das sind Werke, die uns auch unter
den heutigen Bedingungen noch von Nutzen sein können. Es hat doch wohl
nichts mehr mit revolutionär zu tun, wenn man abergläubisch alles Alte
für feudalistisch und religiös erklärt oder wenn man sich einerseits
zum Realismus – als einer realen Waffe der realen Revolution – bekennt
und gleichzeitig vor der buddhistischen Lehre des šūnyatā (3) das
Zittern bekommt; wenn man sich fürchtet, den Menschen "religiöse" oder
"feudalistische" Bücher zu zeigen und das Wort „Leerheit“ am liebsten
verbieten würde! Damit macht man sich ja lächerlich. Das ist doch nur
Ausdruck einer neuen Art von Aberglauben, um nicht zu sagen, es sind
Irrungen und Angstpsychosen kurzsichtiger Menschen.
Alte Literatur, wie ich sie meine, darunter hochinteressante Schriften
aus der Zeit des Feudalismus, findet man in reicher Auswahl in den
Bibliotheken aller asiatischen und europäischen Länder. Und wie wir
wissen, misst die große Sowjetunion, die doch wahrhaftig ein
revolutionäres Land ist, solchen Werken der Vergangenheit großen Wert
bei und widmet ihnen hohe Auflagen, vor allem in letzter Zeit.
Wie reagieren zum Beispiel die Leser auf das "Decameron", einen Zyklus
kleiner Erzählungen, der nun auch in unserer mongolischen Sprache
verlegt wird, auf den Scharfsinn, den kunstvollen Stil und die
Gedankentiefe dieses Buches? Jede einzelne Geschichte offenbart doch
die moralische Verkommenheit des Adels, vor allem aber auch von hohen
Geistlichen, die sich gern als Heilige betrachten lassen. Es ist ein
wunderbares Buch, köstlich zu lesen. Dieses Buch, das schon vor
Jahrhunderten geschrieben wurde, beweist doch, dass schon damals
Geistliche aufs Korn genommen wurden, die sich nach außen hin als
hochanständige und von frommer Gleichmut erfüllte Priester gaben, sich
heimlich aber so schamlos benahmen, als gäbe es kein Keuschheitsgelübde
... Dergleichen klingt nicht selten auch aus den Geschichten, die sich
das mongolische Volk erzählt. Das aber ist doch Literatur der
Vergangenheit! Und es gibt ganz erstaunliche, hochinteressante Werke,
die noch viel älter sind und heutzutage als große Kostbarkeit gelten.
Wenn diejenigen, die den Wert unserer alten Kultur nicht begreifen und
bei der Begegnung mit "feudalistischen" und "religiösen" Büchern am
liebsten die Augen zukneifen würden, weil sie meinen, man dürfe so
etwas um Himmelswillen nicht angucken – wenn diese Leute sehen könnten,
was in der Sowjetunion in jüngster Zeit so alles herausgegeben wurde,
es würde sie grausen! Sie würden sich ängstlich fragen, ob sich die
Sowjetunion etwa zum Förderer der Religion machen wolle. Ich, der
Schreiber dieser Zeilen, habe im letzten Jahr ein wunderschönes Buch
gesehen, erschienen bei einem sowjetischen Verlag. Es handelt sich um
einen herrlichen Faksimiledruck einer alten russischen Handschrift, die
über einen Feldzug zur Verteidigung des Landes und seiner Religion
berichtet, der irgendwann in längst vergangener Zeit stattgefunden hat.
Man hat keine Kosten gescheut und sogar Ikonenmaler herangezogen, die
die Miniaturen im Stil alter Heiligenbilder übertrugen. So entstand ein
Kunstwerk, das auch im Ausland von sich reden macht. Hier ging es
keineswegs darum, etwas Altes nachzumachen oder die Kirche und ihre
Würdenträger zu verherrlichen, sondern man wollte zeigen, dass die
Vergangenheit ihre Bedeutung als eine große Zeit der Kunst immer
behalten wird.
In der Sowjetunion werden nach wie vor berühmte Opern aus der Zarenzeit
aufgeführt. Und nach wie vor widmet sich die sowjetische Akademie der
Wissenschaften auch der Edition interessanter alter mongolischer
Schriften. Niemand bezweifelt, dass es dabei um das Bestreben geht, die
alte Literatur zugänglich zu machen, ihre Besonderheiten zu zeigen und
ihre Leistungen zu würdigen. Niemand käme auf den Gedanken, zu
behaupten, die Sowjetunion treibe mit solchen Dingen Propaganda für
Konservatismus und Religion.
Die Schriftsteller der Vergangenheit schrieben gelegentlich auch über
Dinge, die es nie gegeben hat, oder sie machten aus einer kleinen These
eine große Wahrheit. Das weiß jeder vernünftige Mensch. Solche
Literatur wird auch heute noch geschrieben, und niemand hat behauptet,
dass es sie in Zukunft nicht mehr geben würde.
Tatsächlich ist die alte phantastische Literatur sehr interessant, und
die Tatsache, dass die Menschen früher über Dinge, die es nie gegeben
hat und die es auch gar nicht geben kann, so zu schreiben verstanden,
dass man glauben möchte, es hätte sich alles so zugetragen, zeugt von
ihrem Talent und von ihren großen geistigen Fähigkeiten.
Heißt das nun, bei den heutigen Menschen seien Geist und Talent
verkümmert? Nein, man muss zugeben, dass die Menschen heute viel klüger
sind. Trotzdem hilft ihnen die alte Literatur, etwas über Licht- und
Schattenseiten vergangener Zeiten zu erfahren, unabhängig davon, ob die
beschriebenen Ereignisse sich tatsächlich zugetragen haben oder nicht.
Natürlich zeigen die geistigen Produkte der Vergangenheit Einflüsse des
Feudalismus und der buddhistischen Ethik. Dennoch stellt der klerikale
Feudalismus - und damit das gesamte klerikale Kunst- und
Literaturschaffen dieser Zeit - eine interessante Formation der
Menschheitskultur dar. Darum wäre es gut, wenn alle, die sich davon
abgewandt haben, diesen Dingen erneut ihr Interesse zuwenden und
lernen würden, das Alte und das Neue gleichermaßen richtig zu
bewerten; denn nur dann können wir wissen, was wir übernehmen und was
wir ver-werfen sollten. Wie will man vorankommen, wenn man nicht weiß,
was man mitnehmen und was man zurücklassen soll? Wenn man, um
vorwärtszukommen, eine Brücke bauen will, und man beherrscht nicht
einmal die Regeln der alten Baukunst, dann kann man natürlich auch
nicht wissen, worin sich ein moderner Bau von einem alten
unterscheidet, und ehe man sich versieht, hat man vielleicht eine
Brücke der alten Art gebaut. Ich könnte Beispiele nennen, wie man mit
bewundernswertem Fingerspitzengefühl und der gegenwärtigen Situation
angemessen, von der Vergangenheit das übernimmt, was notwendig ist, wie
man aber auch aus dem, was nicht unbedingt notwendig erscheint, noch
Nutzen zieht. Solche Beispiele gibt es, aber eben nur in der UdSSR.
Denkt doch einmal nach, Genossen! Denkt gründlich nach, dann wird euch
auffallen, wie vieles es gibt, was bei uns als untragbar gilt, in der
UdSSR aber als wertvoll angesehen wird; und eben weil man es als
wertvoll ansieht, kann man auch den entsprechenden Nutzen daraus ziehen.
Es gibt jedoch noch eine andere Art von Sektierertum, die ich nicht
unerwähnt lassen will. Ich meine die Vergangenheitsfanatiker, nämlich
diejenigen, die mit großen Augen zusehen, wie sich eine neue
Menschheitskultur entwickelt, und es dennoch nicht wahrhaben wollen.
Sie machen die "schlimmen Zeiten" dafür verantwortlich und begreifen
nicht die unermessliche Kraft des menschlichen Geistes; für ihre
Begriffe sind eben nur die Götter und die Lamas stark. Den
ungebildeten und leichtgläubigen Araten wollen diese Menschen
weismachen, dass der ganze Zauberspuk, die wundersamen Verwandlungen,
von denen die phantastische Literatur der Vergangenheit berichtet,
dass all diese ausgedachten Geschichten wahr seien. Genau das
verstehen wir unter religiösem Aberglauben. Wir alle durchschauen es.
Trotzdem aber gibt es – und sogar im Bereich der revolutionären
Arbeit – noch immer Menschen, die meinen, es gäbe nichts Schöneres
als die
alten Verhältnisse und deshalb versuchen, aus der alten Literatur
solche Stoffe zu übernehmen und zu gestalten, die nicht mehr in die
heutige Zeit passen.
Die Führung unserer Revolutionären Volkspartei hat angesichts dessen
schon mehrmals darauf hingewiesen, wie die Auseinandersetzung mit
diesen beiden extremen Richtungen – nämlich mit der Verabsolutierung
des Alten einerseits und der Verabsolutierung des Neuen andererseits –
zu führen. Die jungen revolutionären Künstler werden immer gut beraten
sein, wenn sie sich diese Hinweise zu Herzen nehmen und sich ehrlich
und diszipliniert daran halten. Jenen anderen zu folgen und ins
Sektierertum zu verfallen, brächte uns allen nur Schaden.
(Aus dem Mongolischen von Renate Bauwe)
Anmerkungen:
- Aus:
S. Bujannemech, Šine üjeijn uran zochiol . Tüüver zochiol, Ulaanbaatar
1968, 252-256. Erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Šine tol’
1936, 3-4.
- Adlige
- šūnyatā oder „Leerheit“ (mong. „хоосон чанар”) bedeutet, dass die Dinge und Erscheinungen keine Eigennatur besitzen.
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