Mongolische Literatur

S. Bujannemech: 

Über die alte Literatur (1)

... Die Menschheit verfügt heute über ein beachtliches Wissen. Dieses Wissen aber ist nicht urplötzlich entstanden, sozusagen aus dem Nichts heraus – es wurzelt tief in der Vergangenheit, und es hat sich von Generation zu Generation immer mehr verfeinert und vervollkommnet. So sind die Erfahrungen der Menschheit aus Jahrhunderte und Jahrtausende währender Tätigkeit auf die Gegenwart überkommen, wo sie in allen Bereichen eine stürmische Entwicklung ausgelöst haben. Vor allem im Gefolge der revolutionären Prozesse, die noch immer andauern, hat sich das menschliche Wissen mit so ungeheurem Tempo erweitert, als hätte man einen Motor an ein elektrisches Netz angeschlossen.
Nun meinen aber einige engstirnige oder übereifrige Zeitgenossen, dass bis zu dem Tage, an dem sich die Revolution machtvoll zu entfalten begann, alle Kultur ausschließlich der lamaistischen Kirche und dem Feudaladel gedient habe, bzw. dass alles, was alt ist, obskur und primitiv sei und dass wir deshalb des Althergebrachten, der Erfahrungen der Vergangenheit, nicht mehr bedürften. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit Wissenschaftlichkeit im Sinne von Marx zu tun. Wenn wir uns auf dem Boden der marxistischen Dialektik bewegen wollen, müssen wir die Geschichte als einen Prozess betrachten, in dem sich die Menschheit aufgrund ihrer Existenzbedingungen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in obere und untere Klassen spaltete, in Klassen die gegeneinander kämpften, und von denen jede einzelne ihre Interessen in der Literatur zum Ausdruck gebracht hat. Das ist Grund genug dafür, dass sich die Gelehrten und Schriftsteller von heute mit der Vergangenheit beschäftigen, um Brauchbares von Unbrauchbarem zu trennen. Die Ereignisse der Vergangenheit sind heute wie ein Spiegel, der uns hilft, Überkommenes zu prüfen und zu begreifen. Es liegt uns fern, auf diese Weise irgendjemanden zu Konservatismus verführen zu wollen.
Wie ist das gemeint? Man behauptet heute, der Feudaladel und die Repräsentanten der buddhistischen Kirche hätten ihr Volk nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumgeführt und unterdrückt. Wenn man aber der Frage nachgehen will, mit welchen literarischen Werken, mit welchen anderen Aktivitäten, wie und nach welchen Gesichtspunkten sie dies getan haben, dann muss man sich über ihr gesamtes Tun und Lassen informieren, bis hin zu den schriftlichen Aufzeichnungen und literarischen Arbeiten, und diese Informationen muss man weitervermitteln.
Nun gehören aber zum Bestand der alten Literatur auch viele mündlich überlieferte Geschichten und andere Werke, geschaffen von Vertretern eben dieses unterdrückten Volkes oder von Verfechtern seiner Interessen, wo auf feine, hintergründige Art der sittliche Verfall und die Grausamkeit der damaligen Nojone (2) und Lamas ans Licht gebracht werden. Das sind Werke, die uns auch unter den heutigen Bedingungen noch von Nutzen sein können. Es hat doch wohl nichts mehr mit revolutionär zu tun, wenn man abergläubisch alles Alte für feudalistisch und religiös erklärt oder wenn man sich einerseits zum Realismus – als einer realen Waffe der realen Revolution – bekennt und gleichzeitig vor der buddhistischen Lehre des šūnyatā (3) das Zittern bekommt; wenn man sich fürchtet, den Menschen "religiöse" oder "feudalistische" Bücher zu zeigen und das Wort „Leerheit“ am liebsten verbieten würde! Damit macht man sich ja lächerlich. Das ist doch nur Ausdruck einer neuen Art von Aberglauben, um nicht zu sagen, es sind Irrungen und Angstpsychosen kurzsichtiger Menschen.
Alte Literatur, wie ich sie meine, darunter hochinteressante Schriften aus der Zeit des Feudalismus, findet man in reicher Auswahl in den Bibliotheken aller asiatischen und europäischen Länder. Und wie wir wissen, misst die große Sowjetunion, die doch wahrhaftig ein revolutionäres Land ist, solchen Werken der Vergangenheit großen Wert bei und widmet ihnen hohe Auflagen, vor allem in letzter Zeit.
Wie reagieren zum Beispiel die Leser auf das "Decameron", einen Zyklus kleiner Erzählungen, der nun auch in unserer mongolischen Sprache verlegt wird, auf den Scharfsinn, den kunstvollen Stil und die Gedankentiefe dieses Buches? Jede einzelne Geschichte offenbart doch die moralische Verkommenheit des Adels, vor allem aber auch von hohen Geistlichen, die sich gern als Heilige betrachten lassen. Es ist ein wunderbares Buch, köstlich zu lesen. Dieses Buch, das schon vor Jahrhunderten geschrieben wurde, beweist doch, dass schon damals Geistliche aufs Korn genommen wurden, die sich nach außen hin als hochanständige und von frommer Gleichmut erfüllte Priester gaben, sich heimlich aber so schamlos benahmen, als gäbe es kein Keuschheitsgelübde ... Dergleichen klingt nicht selten auch aus den Geschichten, die sich das mongolische Volk erzählt. Das aber ist doch Literatur  der Vergangenheit! Und es gibt ganz erstaunliche, hochinteressante Werke, die noch viel älter sind und heutzutage als große Kostbarkeit gelten.
Wenn diejenigen, die den Wert unserer alten Kultur nicht begreifen und bei der Begegnung mit "feudalistischen" und "religiösen" Büchern am liebsten die Augen zukneifen würden, weil sie meinen, man dürfe so etwas um Himmelswillen nicht angucken – wenn diese Leute sehen könnten, was in der Sowjetunion in jüngster Zeit so alles herausgegeben wurde, es würde sie grausen! Sie würden sich ängstlich fragen, ob sich die Sowjetunion etwa zum Förderer der Religion machen wolle. Ich, der Schreiber dieser Zeilen, habe im letzten Jahr ein wunderschönes Buch gesehen, erschienen bei einem sowjetischen Verlag. Es handelt sich um einen herrlichen Faksimiledruck einer alten russischen Handschrift, die über einen Feldzug zur Verteidigung des Landes und seiner Religion berichtet, der irgendwann in längst vergangener Zeit stattgefunden hat. Man hat keine Kosten gescheut und sogar Ikonenmaler herangezogen, die die Miniaturen im Stil alter Heiligenbilder übertrugen. So entstand ein Kunstwerk, das auch im Ausland von sich reden macht. Hier ging es keineswegs darum, etwas Altes nachzumachen oder die Kirche und ihre Würdenträger zu verherrlichen, sondern man wollte zeigen, dass die Vergangenheit ihre Bedeutung als eine große Zeit der Kunst immer behalten wird.
In der Sowjetunion werden nach wie vor berühmte Opern aus der Zarenzeit aufgeführt. Und nach wie vor widmet sich die sowjetische Akademie der Wissenschaften auch der Edition interessanter alter mongolischer Schriften. Niemand bezweifelt, dass es dabei um das Bestreben geht, die alte Literatur zugänglich zu machen, ihre Besonderheiten zu zeigen und ihre Leistungen zu würdigen. Niemand käme auf den Gedanken, zu behaupten, die Sowjetunion treibe mit solchen Dingen Propaganda für Konservatismus und Religion.
Die Schriftsteller der Vergangenheit schrieben gelegentlich auch über Dinge, die es nie gegeben hat, oder sie machten aus einer kleinen These eine große Wahrheit. Das weiß jeder vernünftige Mensch. Solche Literatur wird auch heute noch geschrieben, und niemand hat behauptet, dass es sie in Zukunft nicht mehr geben würde.
Tatsächlich ist die alte phantastische Literatur sehr interessant, und die Tatsache, dass die Menschen früher über Dinge, die es nie gegeben hat und die es auch gar nicht geben kann, so zu schreiben verstanden, dass man glauben möchte, es hätte sich alles so zugetragen, zeugt von ihrem Talent und von ihren großen geistigen Fähigkeiten.
Heißt das nun, bei den heutigen Menschen seien Geist und Talent verkümmert? Nein, man muss zugeben, dass die Menschen heute viel klüger sind. Trotzdem hilft ihnen die alte Literatur, etwas über Licht- und Schattenseiten vergangener Zeiten zu erfahren, unabhängig davon, ob die beschriebenen Ereignisse sich tatsächlich zugetragen haben oder nicht.
Natürlich zeigen die geistigen Produkte der Vergangenheit Einflüsse des Feudalismus und der buddhistischen Ethik. Dennoch stellt der klerikale Feudalismus - und damit das gesamte klerikale Kunst- und Literaturschaffen dieser Zeit - eine interessante Formation der Menschheitskultur dar. Darum wäre es gut, wenn alle, die sich davon abgewandt haben, diesen Dingen erneut ihr Interesse zuwenden und lernen würden, das Alte und das Neue gleichermaßen richtig zu bewerten; denn nur dann können wir wissen, was wir übernehmen und was wir ver-werfen sollten. Wie will man vorankommen, wenn man nicht weiß, was man mitnehmen und was man zurücklassen soll? Wenn man, um vorwärtszukommen, eine Brücke bauen will, und man beherrscht nicht einmal die Regeln der alten Baukunst, dann kann man natürlich auch nicht wissen, worin sich ein moderner Bau von einem alten unterscheidet, und ehe man sich versieht, hat man vielleicht eine Brücke der alten Art gebaut. Ich könnte Beispiele nennen, wie man mit bewundernswertem Fingerspitzengefühl und der gegenwärtigen Situation angemessen, von der Vergangenheit das übernimmt, was notwendig ist, wie man aber auch aus dem, was nicht unbedingt notwendig erscheint, noch Nutzen zieht. Solche Beispiele gibt es, aber eben nur in der UdSSR.
Denkt doch einmal nach, Genossen! Denkt gründlich nach, dann wird euch auffallen, wie vieles es gibt, was bei uns als untragbar gilt, in der UdSSR aber als wertvoll angesehen wird; und eben weil man es als wertvoll ansieht, kann man auch den entsprechenden Nutzen daraus ziehen.
Es gibt jedoch noch eine andere Art von Sektierertum, die ich nicht unerwähnt lassen will. Ich meine die Vergangenheitsfanatiker, nämlich diejenigen, die mit großen Augen zusehen, wie sich eine neue Menschheitskultur entwickelt, und es dennoch nicht wahrhaben wollen. Sie machen die "schlimmen Zeiten" dafür verantwortlich und begreifen nicht die unermessliche Kraft des menschlichen Geistes; für ihre Begriffe sind eben nur die Götter und die Lamas stark. Den ungebildeten und leichtgläubigen Araten wollen diese Menschen weismachen, dass der ganze Zauberspuk, die wundersamen Verwandlungen, von denen die phantastische Literatur der Vergangenheit berichtet, dass all diese ausgedachten Geschichten wahr seien. Genau das verstehen wir unter religiösem Aberglauben. Wir alle durchschauen es. Trotzdem aber gibt es – und sogar im Bereich der revolutionären Arbeit – noch immer Menschen, die meinen, es gäbe nichts Schöneres als die alten Verhältnisse und deshalb versuchen, aus der alten Literatur solche Stoffe zu übernehmen und zu gestalten, die nicht mehr in die heutige Zeit passen.
Die Führung unserer Revolutionären Volkspartei hat angesichts dessen schon mehrmals darauf hingewiesen, wie die Auseinandersetzung mit diesen beiden extremen Richtungen – nämlich mit der Verabsolutierung des Alten einerseits und der Verabsolutierung des Neuen andererseits – zu führen. Die jungen revolutionären Künstler werden immer gut beraten sein, wenn sie sich diese Hinweise zu Herzen nehmen und sich ehrlich und diszipliniert daran halten. Jenen anderen zu folgen und ins Sektierertum zu verfallen, brächte uns allen nur Schaden.


(Aus dem Mongolischen von Renate Bauwe)

Anmerkungen:

  1. Aus: S. Bujannemech, Šine üjeijn uran zochiol . Tüüver zochiol, Ulaanbaatar 1968, 252-256. Erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Šine tol’ 1936, 3-4.
  2. Adlige
  3. šūnyatā oder „Leerheit“ (mong. „хоосон чанар”) bedeutet, dass die Dinge und Erscheinungen keine Eigennatur besitzen.

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