Schagdardshawyn Nazagdordsh
„MANDCHAI DIE KLUGE“
(Historischer Roman)
Mandchai, die schöne Tochter des demissionierten Ministers Zorosbai,
zählt gerade sechzehn Jahre, als der Großchaan Manduul sie zur
Nebenfrau begehrt: Sie soll ihm einen Sohn gebären, denn der Thron der
mongolischen Herrscher droht zu verwaisen. Zwei Jahre später ist
Mandchai Witwe und Herrin im Palast des Zehntausendfachen Friedens. Auf
ihren Schultern ruht die Verantwortung für das Wohl und Wehe von Land
und Untertanen; die Staatsräson verlangt, dass sie die Ehe mit einem
zwölfjährigen Jungen eingeht …
Leseprobe:
... Auf dem weitläufigen Platz vor der Stadt Char Chorum stand ein
riesiges weißseidenes Zelt, umgeben von einem Zaun aus rotgesteppten
Filzmatten. Die großen und die kleinen Nojone der Osttumen, die
Schreiber und Militärs, Soldaten und Zivilisten hatten sich
eingefunden. Batmunk trug die dreifach besohlten Stiefel, doch machten sie ihn kaum
größer. Das Gewimmel der vielen Menschen verwirrte ihn so sehr, dass er
am liebsten davongelaufen wäre. Die Menge hob ihn hoch und trug ihn auf
einem großen Stück weißen Filzes auf den Thron der Chaane. Von links
stützte ihn Minister Satai, von rechts der alte Heerführer Urianchaidai
und von hinten Baasan Tawnan. Alle Anwesenden nahmen die Mützen vom
Kopf, banden ihre Gürtel ab und legten sie sich über den Nacken. Als
Satai dem jungen Chaan eine goldene Schale mit Milch reichte, fielen
alle Menschen auf die Knie und verneigten sich neunmal. Dazu riefen sie
laut: „Dajan Chaan – Herrscher der Welt!“ Satai las eine Erklärung Batmunks vor, welche Mandchai zur Landesmutter
und zur Obersten Chatan des Mittleren Palastes bestimmte. Gefangene,
die leichte Strafen zu verbüßen hatten, wurden begnadigt, an die Alten
sollten Geschenke verteilt werden. Dann richtete Satai belehrende Worte an den Chaan: „Schart um Euch die
Aufrechten, haltet fern von Euch Schwindler und Schmeichler! Vergesst
nicht: Von unseren Mongolen-Chaanen haben diejenigen lange regiert, die
ohne Fehl die alten Gesetze der Steppe wahrten. Die aber übermäßig nach
den Reichtümern fremder Länder trachteten, die dem Branntwein verfielen
und der Schönheit der Mädchen und Weiber erlagen, gingen ihres
Juwelenthrones verlustig.“ Feierlich wurde die neue Palastjurte aufgestellt. Als die zwölf
Gitterwände miteinander zu einem Kreis verbunden waren, knüpfte Batmunk
unter Anleitung des Kultmeisters einen Chadag mit Gerstenkörnern an das
Seil in der Mitte des gewaltigen Dachkranzes. Dann wurde der Dachkranz
auf vier lange Stützen gelegt und von zwölf kräftigen jungen Männern,
dreien auf jeder Seite, langsam und überaus feierlich emporgehoben. Nun
dauerte es nicht mehr lange, und die neue Staatsjurte war fertig. In die Mitte stellten sie ein mächtiges eisernes Feuergestell mit acht
Reifen und zwölf Füßen, den Herd des mongolischen Herrscherhauses. Mit
Hilfe eines großen Feuerstahls, den der Kultmeister ihm reichte,
entzündete Batmunk die Edelweißflocken in Mandchais Hand. Vorsichtig
legte Mandchai die schwelenden Flocken in das Herdgestell, blies darauf
und entfachte so das erste Feuer. Als sie Fett, Airag und Branntwein
hineintröpfelte, züngelten die Flammen, gleichsam erfreut, danach und
loderten hoch auf. Dies war ein untrügliches Zeichen dafür, dass das von längjährigen
inneren Krisen und von den Überfällen der Ming geschwächte Mongolenland
wieder erstarken, dass Einheit und Bruderfrieden wieder herrschen
würden.
In die lodernden Flammen sprach der Kultmeister das Opfergebet:
„Der Chan Changai war erst ein Hügel, die Chatan Meer erst eine Lache, der Espenbaum war noch ein Reisig, der Habichtvogel noch ein Nestling, der scheckige Gemsbock noch ein Zicklein – da brachten wir dir schon Opfer dar, Mutter Feuer mit dem seidenen Gesicht, mit dem butterigen Antlitz, deren Rauch die Wolken durchdringt. Dich entfachten zweiundzwanzig Herrscher, dich blies an die Chatan-Mutter. Deine Mutter ist der Kieselstein, dein Vater ist das harte Eisen. Deine Mutter ist der harte Stein , dein Vater ist das klingende Eisen. Wir bringen dir Fett, wir tropfen dir Airag und Branntwein. Dafür schenke du uns Glück und Wohlstand!“
Der Chaan, die Chatan, der ganze Hofstaat verneigten sich vor dem
Herdfeuer. Draußen flüsterten die Araten miteinander. „Diese Chatan
soll sehr klug sein. Ob das wahr ist?“
„Ja, man sagt es. Auch mutig soll sie sein.“
„Aber dieser Chaan ist noch gar zu klein.“
„Das macht nichts. Wart ein paar Jahre, dann ist er ein leibhaftiger
Höllenfürst.“
„Ich würde gern in Frieden leben, ’die Hand auf der Erde, den Fuß auf
dem Boden’, wie man sagt ...“
... Spätabends klangen die Feierlichkeiten schließlich aus. Todmüde von
den Anstrengungen dieses Tages, sank Mandchai, kaum dass sie ihre Jurte
betreten hatte, ins Bett. Doch die Gedanken ließen ihr noch lange keine
Ruhe. Satai war heute fröhlicher gewesen als alle anderen. Während des
Festes hatte er ihr ein paar Mal zugeflüstert: „Ist das nicht
wunderbar, Chatan? Unsere Bemühungen haben sich gelohnt.“ Wie sollte
dieses schmächtige Jünglein, dessen Bauch von der Beteg-Krankheit dick
wie eine Trommel war, die Mongolei aufrichten und das Volk glücklich
machen? Sie musste lachen, als sie sich das vorstellte.
Indessen wich ihr Lachen bald einer tiefen Wehmut. An diesem Abend
dachte sie lange über ihr ganzes bisheriges Leben nach. Und je mehr sie
grübelte, desto deutlicher erkannte sie, dass ihres unvergleichlich
schwerer und trauriger war als das der Fürstinnen, von denen die alten
Chroniken berichteten. Unubold und sie hatten einander von Herzen geliebt, und doch hatte das
Schicksal sie nicht zusammengeführt. Sie musste die Frau des
kränkelnden Chaans werden, und kaum zwei Jahre später war sie Witwe.
Nun aber galt sie als Gemahlin eines sechs Jahre jüngeren Kindes, das
zu allem Übel an dieser verzehrenden Krankheit litt. Satai hatte sie
wohl trösten wollen, als er heute während der Feierlichkeiten immer
wieder sagte: „Früher, Fürstin, wart Ihr die Kleine Chatan. Jetzt seid
Ihr wirklich die Erste.“ Dabei hätte sie vor Scham im Erdboden
versinken mögen, als man sie mit dem kranken Knaben vermählte. Im
stillen hatte sie Satai verflucht. Am liebsten hätte sie ihm ins
Gesicht geschrien: Das alles hast du angerichtet, alter Mann! Aber
natürlich sagte sie nichts. „Wie unglücklich, wie traurig ist mein
Leben!“, seufzte sie immer wieder. Wie sollte es weitergehen? Der Thron
sei leer, hatten sie gedrängt. Jetzt hatten sie einen Chaan, einen
kranken zwar, aber sie hatten immerhin einen. Sie hatte das Ihre getan;
jetzt musste sie fort von hier. Lieber Witwe sein als die Hauptfrau
dieses finnenbäuchigen Chaans. Sie musste für ihn nur eine
gleichaltrige, junge Chatan finden, und dann Schluss!
Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke: Dieser Batmunk sah aus, als
ob er bald sterben müsste. Womöglich wurde sie noch ein zweites Mal
Witwe! Vor Entsetzen sprang sie im Bett auf. Sie musste versuchen,
dieses Kind zu heilen! Es musste schnellstens behandelt werden. Von der
Milch weißer Kamelstuten würde es nicht gesund werden, und wenn er noch
soviel davon trank. Es nützte auch nichts, auf seinem Bauch
Silberschalen löchrig zu reiben. Was für eine Behandlung käme wohl noch
in Frage? Gleich morgen wollte sie sich mit Satai beraten. Batmunk ging ihr nicht aus dem Sinn. Wenn er gesund wird, dann wird er
vielleicht ein ebenso schöner Mann werden wie sein Vater, dachte sie.
Sie erinnerte sich noch genau, wie sie damals beim Naadam-Fest
Bajanmunk gesehen hatte. Ihr hatte es schon immer furchtbar leid getan,
dass man diesen schönen, stolzen Mann in der Blüte seiner Jahre
ermordet und solches Unheil über seine Familie gebracht hatte. Auch Batmunks Mutter Schicher war sehr schön. Ob die arme Frau noch am
Leben war? Es hieß, Nisman habe sie für sich gewonnen. Nisman aber war
tot. Was mochte nun aus ihr geworden sein? Bisher waren alle
Nachforschungen umsonst gewesen. Ob Batmunk Sehnsucht nach seiner
Mutter hatte? Sie musste die Suche nach Schicher Chatan fortsetzen, ja,
das war wichtig. Satai erschien ihr sehr verändert, als sie ihn am nächsten Tag traf und
der alte Minister sich mit feierlicher Verbeugung nach ihrem Befinden
erkundigte. Mandchai schwieg einen Augenblick verlegen, dann fragte sie
geradeheraus: „Satai, was gedenkt Ihr nun mit Eurem Chaan anzufangen?“ Der alte Mann sah sie groß an. Er schien den Sinn ihrer Frage nicht zu
verstehen.
„Wenn wir seine Krankheit nicht bald behandeln, wird er nicht mehr
lange am Leben bleiben. Ich habe keine Lust, ein zweites Mal Witwe zu
werden.“ Jetzt begriff Satai. „Natürlich, meine Chatan! Glaubt nicht, ich hätte
darüber noch nicht nachgedacht! Ich habe schon Boten überallhin
geschickt, damit sie einen guten Arzt ausfindig machen.“
Drei oder vier Tage später brachte Satai einen Fremden zu Mandchai. Der
Mann sah mehr als sonderbar aus. Verfilztes, üppiges schwarzes Haar
hing ihm bis auf die Schultern. Seine Augen waren rund wie zwei Ringe,
das Gesicht schimmerte wie rote Bronze. Eine Schulter hatte er
entblößt, und der herunterhängende Ärmel streifte fast die Erde. Bei
seinem Anblick fragte sich Mandchai, aus welchem Stamm dieser seltsame
Mensch wohl kommen mochte. Da sagte Satai: „Dieser Mann kommt aus dem
Lande Tibet. Er soll ein berühmter Arzt sein.“ Ein wenig misstrauisch begrüßte Mandchai ihren Gast. „Könnt Ihr die
Krankheit des Chaans heilen?“, fragte sie dann. Es stellte sich heraus, dass der Fremde recht und schlecht mongolisch
sprach. „Es gibt viele Formen des Beteg“, sagte er, „und ich weiß
nicht, welcher Art die des Chaans ist. Ich muss ihn erst untersuchen,
dann sage ich Euch, ob ich ihn heilen kann oder nicht.“ Mandchai gab ihm die Erlaubnis, und sie führten den Arzt in Batmunks
Palastjurte. Ob es nun das unheimliche Äußere des Arztes war, oder ob
der Knabe einfach Angst vor der Untersuchung hatte, jedenfalls weigerte
er sich hartnäckig, seinen Bauch zu zeigen. Mandchai und Satai
versuchten mit vereinten Kräften, ihn zu überzeugen.
„Es geht nicht anders, mein Chaan. Ihr müsst Euch untersuchen lassen.
Sonst wird Euer Bauch eines Tages so groß, dass Ihr Euch nicht mehr
rühren könnt.“ Endlich gab Batmunk nach. Der Arzt bat ihn, seinen Deel abzulegen, dann
betastete er lange den aufgeblähten Bauch. Schließlich wiegte er den
Kopf und sah Mandchai und Satai vorwurfsvoll an. Warum habt Ihr es
soweit kommen lassen? Schienen seine Augen zu fragen. Dann untersuchte
er Batmunk noch einmal gründlich von allen Seiten. „Die Kleider des
Chaans können verbrannt werden“, sagte er nach einer Weile. Später, als sie die Jurte verlassen hatten, erklärte er: „Ich kann den
Chaan heilen. Er hätte längst operiert werden müssen. Ich heile ihn
nicht mit Medikamenten, sondern durch eine Operation.“ Mandchai und Satai sahen sich erschrocken an.
„Ist diese Art der Behandlung gefährlich?“
Der Arzt ließ inmitten seines dichten schwarzen Bartgestrüpps zwei
Reihen weißer Zähne blitzen. „Es ist nicht ganz einfach“, sagte er
lachend. Aber ich denke, lebensgefährlich ist es nicht. Wenn Ihr ihn
behandeln lassen wollt, dann am besten gleich. Wenn wir noch lange
warten, könnte das Schlimmste eintreten.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit als eine Operation?“, fragte Mandchai
bedrückt. Der Arzt zeigte wieder seine weißen Zähne.
„Bei dieser Krankheit hilft nur eine Operation.“ Nach reiflichem Überlegen sagte Satai entschlossen: „Wir wollen einen
glückverheißenden Tag auswählen und den Chaan operieren lassen.“ Sie stellten fest, dass der übernächste Tag günstig sei, und fragten
den Tibeter, was er für seine Arbeit benötige. „Ich brauche zwei Männer mit starken Armen, einen Krug mit abgekochtem
warmem Wasser und eine große flache Schale. Mehr brauche ich nicht.“ Als sie den Arzt in der Gästejurte verabschiedet hatten, fragte
Mandchai besorgt: „Wie mag das wohl ausgehen?“ Satai versuchte sie zu beruhigen. „In den medizinischen Schriften steht
geschrieben, dass man den Beteg durch Operation heilen kann. Ich wage
in aller Bescheidenheit zu glauben, dass es den Chaan nicht in
Lebensgefahr bringen wird.“ Schweigend ging Mandchai zurück in ihre Jurte.
Der schicksalhafte Tag brach an. Mandchai und Satai begleiteten den
Arzt in Batmunks Palastjurte. Batmunk wollte sich nicht ausziehen. Als
sie dann gar Anstalten machten, ihn nackt auf das große Bett zu legen,
sträubte er sich mit aller Kraft, doch zwei Paar kräftige Fäuste
packten ihn an Armen und Beinen, so dass er sich nicht mehr bewegen
konnte. Der Arzt malte ihm ein Zeichen auf den Bauch, griff nach einem
riesigen Messer und sagte, wobei er seine weißen Zähne blitzen ließ:
„Mit diesem Messer werde ich Euch den Bauch aufschneiden.“ Vor Entsetzen begann der Chaan zu weinen und laut um Hilfe zu schreien.
Er versuchte, sich aufzurichten, doch es half alles nichts. Während der
Arzt mit dem Messer herumfuchtelte, und auf den Knaben einredete, stach
er unversehens mit einer spannenlangen, dicken Nadel genau in die
bezeichnete Stelle. Batmunk, der die ganze Zeit die Hand mit dem Messer
angestarrt hatte, ängstlich wartend, dass sie ihm den Bauch
aufschlitzte, merkte gar nicht, was mit ihm geschah. Als der Arzt den
spitzen Stahl herauszog, quoll Eiter aus der Wunde und füllte die
bereitgestellte Schale bis zum Rand. Vorsichtig massierte der Arzt
Batmunks Bauch. Dann drehte er den Jungen auf die Seite, so dass die
offene Stelle nach unten zu liegen kam, und drückte allen Eiter heraus.
Als nach geraumer Zeit dünnes Blut herauszutropfen begann, verband er
die Wunde fest mit weißer Seide. Als Mandchai und Satai den Chaan besuchten, um sich nach seinem
Befinden zu erkundigen, sah er sie böse an und schwieg eigensinnig.
„Wie fühlt sich der Chaan? Tut es weh?“, fragte Mandchai immer wieder
teilnahmsvoll, bis er endlich widerwillig antwortete: „Nein, nein. Es
tut nicht weh.“ Der Arzt zeigte lachend seine weißen Zähne. „Keine Angst! In ein paar
Tagen ist er wieder ganz gesund.“ Und wirklich, schon wenige Tage später hatte sich der Bauch, der rund
wie eine Trommel gewesen war, zusammengezogen. Die Wunde schloss sich
rasch. Batmunk aß mit gutem Appetit, verlor sein schüchternes, stilles
Wesen und wurde lebhaft und fröhlich ...
Aus dem Mongolischen von Renate Bauwe, Verlag Volk und Welt, Berlin 1988