Der
Gang über Grenzen, ein Wechsel der Kulturen verheißt Freiheit ebenso
wie Gefahr. Wer die weglose Wildnis zwischen zwei Welten durchdringen
will, tut dies auf eigenes Risiko. Er ist vor Überraschungen und
Täuschungen nicht sicher. Jeder Schritt kann ein Scheitern sein oder
die Chance, zu neuen Horizonten und Einsichten vorzustoßen. Und dies
gilt immer für beide Seiten, in diesem Fall für den Künstler und den
Betrachter seiner Bilder.
Wir stehen
zwischen Leinwänden, die
zu Landschaften werden. Fremde und doch seltsam vertraute Welten tun
sich vor unseren Augen auf. Horizontlose Wildnisse, in denen sich
geheimnisvolles Leben entfaltet. Figurenreiches Gewimmel, eingewoben in
ein dichtes Gefüge aus sich mehrfach überlagernden Farbspuren.
Was
von fern wie eine überraschend lebendige Wiedergeburt informeller
Strukturen wirkt, erweist sich beim Näherkommen als löchriger Text auf
der Höhe postmoderner Ironie und beim Herantreten an die Oberflächen
als ein graphisch ausgeklügeltes Gewebe comic-artiger Figurationen in
paradiesischer Unschuld und heiligem Ernst, also ohne jeden Hang zu
Satire und Gegenwart.
Was wir hier
sehen, ist im wahrsten
Sinne des Wortes: vielschichtig. Wir sehen: ein lasierendes
Aufeinanderstapeln abstrakter Farbverläufe einerseits und ein
flächenhaftes Verknoten, Verwirbeln und Vernetzen feinziselierter,
schablonenhafter Mensch-Tier-Agglomerationen andererseits. Und wir
sehen: das virtuose Ineinanderschieben dieser beiden unvermischten und
perspektivlosen Ebenen der Bildgestaltung – weit jenseits von
Wahrnehmungskonventionen, die uns vertraut sind. Abstraktion und
Figuration lösen sich nicht auf, sondern entfalten - unvereint - ihren
vollen Antagonismus.
Aber statt, dass
die Bildwelten
explodieren und zerfallen, entspringt aus dem auf der Leinwand
gebändigten Widerspruch ein unerwartetes, nie gesehenes Großornament:
visuell flirrend, ikonografisch ambivalent. Faszinierend wirkt die
ostentative Widersprüchlichkeit zwischen dem wuchernden Gestaltchaos
und einer obsessiven Systematik.
Kurzum: Was wir
sehen,
entzieht sich dem eindimensionalen Zugriff von Beschreibung und
Interpretation. Vorsicht also beim Betreten eines unbekannten Terrains,
das zu Recht Neugier weckt.
Nur so viel
lässt sich am Beginn
unserer Reise ins Unbekannte sagen: Diese überraschenden Bilder sind
HYBRIDE. Sie markieren einen unbestimmten Ort kultureller
Überschneidung. Die Soziologie definiert Hybridität als ein Phänomen,
das in Situationen auftritt, in denen antagonistische Denkinhalte und
unvereinbare Logiken aus unterschiedlichen kulturellen, sozialen oder
religiösen Lebenswelten zu neuen Handlungs- und Denkmustern
zusammengesetzt werden. Vorzugsweise in diesen Situationen entsteht
kulturelle Dynamik. Und - füge ich hinzu - in einer solchen
Konstellation entsteht die Chance zu echter Erneuerung.
Ershuu
Otgonbayar - der sich als Künstler selbst Otgo nennt - wurde am
18.
Januar 1981 am Rande Ulaanbataars, der Hauptstadt der Mongolei, als
sechster Sohn des einfachen Arbeiters Erschüü geboren. Zwischen
Zentral-, Nord- und Ostasien gelegen, ist das Steppen- und
Halbwüstenland fast fünfmal so groß wie Deutschland und mit 3 Millionen
Einwohnern der am dünnsten besiedelte unabhängige Staat der Welt.
Jahrtausendelang lebten hier Nomaden, die Dschingis Khan Ende des 12.
Jahrhunderts für kurze 70 Jahre zu einem Weltreich bündelte. Seitdem
steht das Land unter dem geistigen Einfluss des Buddhismus und
Lamaismus, alte Religionen die selbstverständlich die - nach der
Sowjetunion zweitälteste - sozialistische Volksrepublik überlebten.
Der
Maler Otgo wuchs mit sieben Geschwistern und einem Adoptivbruder am
anderen Ende der Welt auf. Er zeigte früh seine künstlerische Begabung
und studierte in den 1990er Jahren Malerei an der Kunsthochschule in
Ulaanbataar. Danach widmete er sich sechs Jahre lang dem Selbststudium
der traditionellen mongolischen Miniaturmalerei und arbeitete zeitweise
als Restaurator. Und er machte sich auf den Weg zu den Quellen: zwei
Jahre nomadisierte er durch seine Heimat, reiste zu Fuß und zu Pferd,
mit Schiff und Flugzeug durch das ganze Land, in die verstecktesten
Winkeln, zu Dörfern und Klöstern. Er traf auf die unterschiedlichsten
Menschen und lebte mit seinen Lehrern zusammen. Seine Liebe zum Land
und zur Religion seiner Väter wurzelt in dieser Zeit.
Otgo
eignete sich die Techniken, Ikonografien und spirituellen Hintergründe
der mongolischen Miniatur-Malerei in den buddhistisch-lamaistischen
Klöstern im traditionellen direkten Lehrer-Schüler-Verhältnis an und
begann, alle Malutensilien selbst herzustellen. Er wurde ein Meister in
der Thangka-Malerei, die für ihn mehr Philosophie, denn Handwerk ist.
Ein Thangka ist ein Rollbild des tantrischen Buddhismus (Lamaismus). Es
wird zur Meditation in Tempeln oder Hausaltären aufgehängt und bei
Prozessionen mitgeführt.
Otgo malte mit
feinsten Haarpinseln
ohne optischen Hilfsmittel auf winzigen diagroßen Formaten (6 x 7 cm)
Hunderte von Buddhas, Bodhisattvas und Schutzgottheiten:
Einzelfigurationen von filigranster Ornamentik. Seine geheimnisvollen
Schwarz-grundierungen sind aus Ruß und Milchschnaps angemischt, die
Farben bestehen aus mineralischen und pflanzlichen Pigmenten, gebunden
mit Leim aus Yakhaut.
Otgo erfindet
sich als Künstler
innerhalb eines definierten Kanons neu. Malerei wird für ihn zur
Meditation, ohne konkrete religiöse Intentionen. Er arbeitet im
spirituellen Geborgensein der Vorstellung, dass die Energie durch die
lebendige Gottheit auf ihn als Werkzeug übergeht. "Tangkamalerei
bedeutet, dass der Geist malt, nicht die Hände, wie Meditation schenkt
sie neue Kraft und Energie.“ Wenn der Maler erst ganz am Schluss
den
Gesichtern seiner heiligen Figuren Augen gibt, erwacht die Gottheit zum
Leben.
Die wichtigste
Grundlage für diese Malerei ist das
natürliche Licht. In der Mongolei scheint an 300 Tagen im Jahr die
Sonne. So wurde Deutschland zur Herausforderung. Denn Otgonbayar
siedelte nach staatlichen Auszeichnungen und Ausstellungen in aller
Welt 2005 nach Berlin um und fing 2007 noch einmal ein Kunststudium an,
diesmal im Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste
Berlin. Er schloss es 2010 mit dem Master of Arts ab.
Der
Künstler erwarb auf diese Weise nicht nur die Kenntnis über Techniken,
Ikonografien und das Selbstverständnis westeuropäischer Kunstgeschichte
und Gegenwartskunst, er tauchte auch ein in die aktuellen Diskurse um
Malerei und Medien, Moderne und Postmoderne. So ging er über Grenzen in
eine neue Welt und erweiterte seine Horizonte, ohne die frühen
Prägungen zu verdrängen. Otgo arbeitet in Deutschland nicht nur als
Maler, sondern engagiert sich auch stark im künstlerischen und
geistigen Austausch zwischen Europa und seiner Heimat. Mit seiner
Galerie Zurag in Berlin bietet er einen künstlerisch geprägten
Schutzraum an, an dem sich Ost und West treffen, wo die Wahrnehmung
mongolischer Kultur ermöglicht wird und in dem auch der mongolische
Ministerpräsident schon einmal absteigt.
In Deutschland
fehlt das
Licht, "der Himmel ist fast immer
dunkel". Doch Deutschland wird nun
der Ort, an dem Otgo in den fünf Jahren nach dem zweiten
Studienabschluss seinen originären Hybridstil entwickelte, in dem
nichts vermischt und aufgelöst wird, sondern sich die kulturellen
Prägungen zweier Welten gegenüberstehen: im Bild und als Bild
bezwungen.
Otgo bringt die
technische Virtuosität und die
ikonografischen Tradition der mongolischen Miniaturmalerei, die er
innerhalb seines heimatlichen Kulturkreises bereits zeitgenössisch
interpretiert hat, ein in die westliche Tradition einer auf die eigenen
Bildmittel bezogenen, selbstreferentiellen Kunst, die seit Manet und
dem Impressionismus den Weg in die Abstraktion gegangen ist. Mit der
Durchdringung dieser zwei entgegengesetzten Bildbegriffe gestaltet Otgo
eine Synthese. Seine Malerei erweist sich als ein eigenständiges
visuelles Phänomen. Die bewusst herbeigeführte und künstlerisch auf
hohem Niveau bewältigte Situation der Hybridität in der Überlagerung
zweier Kulturen wird zum Einfallstor für Neues.
Zu beobachten
ist, dass die aktuelle Entwicklung Otgos zu größerer ikonografischer
Freiheit und Abstraktion geht. Das graphische Wimmel-Drama, die
Kamasutra-Erotik wird zugunsten eines beruhigten Figurenkosmos in
paradiesischer Verschlingung zurückgenommen. Die malerische Textur
tritt als gleichberechtigter Partner immer stärker in die Bildfindung
ein.
Nach einer Phase
intensiver zeitgeistiger
Neon-Farbigkeit, weisen im Moment pastellhafte Grundtöne stärker auf
die Fläche zurück. Dafür nehmen die malerischen Strukturen gestische
Züge und experimentellen Charakter an. Die einzelnen Bildelemente lösen
sich mehr und mehr auf und bilden hybride Mischformen, die sich in
Wellenbewegungen und Meta-Mustern über die homogeneren Bildoberflächen
ziehen.
So stehen wir
heute vor expressiver Acrylmalerei mit
filigranen Tuschzeichnungen auf Baumwoll-Leinwänden. Zebraschwärme, von
Frauenkörpern in Streifenkostümen begleitet, entfalten einen op-artigen
Wirbel. Pinguinkolonien scheinen in informellen Texturen auf, um im
eisblauen Orkus zu verlöschen. Unüberschaubare Pferdeherden galoppieren
über türkisfarbene Steppen einem Abend der Existenz entgegen, wunderbar
im Licht des letzten Ausstellungsraums changierend. Im titelgebenden
Triptychon „white“ entdecken Sie zwischen schneeigen Farbgittern ein
ornamentales Gewimmel nackter Menschenkörper und mongolischer Tierwelt
mit Gazellen und Wildziegen, Schneehasen und Schneeleoparden. Zu Recht
zwergenhaft wirkt der Mensch im Universum der Bilder. Die
traditionsgemäß ohne Lupe gemalten Figurationen fügen sich in der
Fernwirkung zum textilen Gewebe zusammen. In diesem Kosmos ist alles
einer unablässig transformierenden Bewegung unterworfen, die wie der
Atem eines Gottes durch die Elemente geht.
Ershuu
Otgonbayar
hat sich zu einem selbstbewussten zeitgenössischen Künstler im
westlichen Kontext entwickelt, der die Kunstentwicklung seiner Heimat
von hier aus inspiriert. Mit Recht kann man ihn daher wohl als
bedeutendsten mongolischen Künstler der Gegenwart bezeichnen. Doch aus
meiner Sicht ist er mehr: Vertreter einer internationalen
Malergeneration im Zeitalter der Post-Postmoderne. Er sorgt innerhalb
der zeitgenössischen nachmedialen Malerei für einen Erneuerungsimpuls.
Ein Impuls, der die Ebenen von Bild und Bedeutung beim
Ineinanderschieben durchlässig macht. Wir erleben eine malerische
Sprache, die komplex, expressiv und originär ist - ein Oeuvre, das uns
bezaubert und verblüfft.