Mongolische Literatur

Brief Erdene-Batchaans (1)  an Maxim Gorki (2)

Berlin, den 12. Mai 1925

Hochverehrter Alexej Maximowitsch!
Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass ich Sie mit diesem Brief belästige. Ich komme aus der Mongolei, bin von Beruf Pädagoge und für Fragen der Volksbildung zuständig. Zur Zeit halte ich mich in der UdSSR und in Deutschland auf, um mich über das Volksbildungswesen zu informieren und bei dieser Gelegenheit das eine oder andere an Anschauungsmitteln und wissenschaftlichen Geräten für den modernen Unterricht zu erwerben.
Mit großem Interesse hörte ich von P. P. Krjutschkow (3), dass Sie unter anderem auch den kulturellen Aufschwung des mongolischen Volkes, wie er sich im Ergebnis der geistigen und kulturellen Annäherung an die benachbarte UdSSR vollzieht, aufmerksam verfolgen, und so hielt ich es denn für meine Pflicht, in Gedankenaustausch mit Ihnen zu treten und Ihnen einmal – soweit ein kleiner Brief dies gestattet – aus meiner Sicht die Bedingungen zu schildern, unter denen sich in unserem Land die Bildungsarbeit vollzieht. Ich hoffe sehr auf Ihre Antwort, sie wäre für uns von großem Wert.
Dass die Mongolen … bis heute Nomaden sind und es voraussichtlich wohl auch noch lange bleiben werden, macht die Bildungsarbeit in der Mongolei äußerst kompliziert. Die Schulen befinden sich noch immer in der Hand der buddhistischen Kirche, sie sind in den vielen, über das ganze Land verteilten Klöstern, den sesshaften Kulturzentren der Nomaden, konzentriert. Beiläufig gesagt, ist das Leben in diesen Klöstern sehr interessant, und man könnte vieles darüber schreiben. Es hat sich die Meinung herausgebildet, dass Wissenschaft und Kunst einzig und allein Sache der Lamas seien. Diese Umstände wirkten sich auf das Denken und Verhalten der Bevölkerung, ihre Lebensweise und ihre Weltanschauung aus und gaben denselben ein lamaistisch-religiöses Gepräge.
Es ist allgemein bekannt, dass die Mongolen, deren Interessen vor sieben Jahrhunderten vor allem der Kriegskunst und der Eroberung der Welt galten, sich während der letzten dreihundert Jahre in ihrer Mehrheit in die sanftmütigsten Gläubigen verwandelt haben, die nunmehr den ganzen Sinn ihres Lebens im Dasein für die Religion und in der Befolgung aufwendiger Rituale sahen, wie sie der buddhistische Reformator Tsongkhapa (4) vorgeschrieben hat. Es muss in der Mongolei Bedingungen gegeben haben, die die Verbreitung des Buddhismus in einer solchen Form begünstigten.
Umgeben von der majestätischen Schönheit unendlich weiter Steppen, die am Horizont an die Felsmassive der zentralasiatischen Gebirge stoßen, hat sich der nomadisierende Hirt immer winzig klein gefühlt. Das von Lärm und Hast unberührte geruhsame Leben in dieser weiten, von Bergen umgebenen Steppenlandschaft förderte bei den Nomaden die Neigung zum Sinnieren. Da sie frei waren von der harten, den Geist und den Körper zermürbenden, mit urzeitlichen Geräten ausgeführten Arbeit der Ackerbauern, hatten sie mehr Zeit zum Meditieren und zum Träumen.
Der Buddhismus stellt noch vor die Lehre vom Nirvana – von dem es heißt, es sei schwer zu begreifen für alle, die sich physisch noch nicht völlig vom materiellen Sein losgelöst haben – die Lehre von der Verderblichkeit des Begehrens, das allmählich in Begierde übergeht und Ursache für das niedere Schicksal und das Leid ist, das der Mensch in seinem Leben erdulden muss, und predigt Gelassenheit. Für diese Lehre boten die realen Verhältnisse in der Mongolei einen fruchtbaren Boden.
Alle Nomaden bekannten sich zu dieser Lehre. In malerischen Tälern und weiten Ebenen bauten sie prächtige Tempel und Klosterschulen, wo sich die Jugend geflissentlich Dutzende von Sutren „einpaukte“. Als Fakt möchte ich erwähnen, dass vierzig Prozent der männlichen Bevölkerung auf diese Weise eine Ausbildung in den Elementar-, Mittel- und Hochschulen der buddhistischen Kirche erhalten haben.
Unterrichtet werden tibetische Sprache und Literatur, die Lehren Buddhas, buddhistische Philosophie, Medizin, Astrologie, Mathematik und andere Fächer. Zusätzlich werden aber auch praktische Kenntnisse vermittelt, zum Beispiel im Buchdruck (Stechen bzw. Schnitzen und Gießen von Druckstöcken, künstlerische Gestaltung von Büchern und dergleichen). Es werden kultische Geräte und Gegenstände, daneben aber auch hölzerner und metallener Hausrat hergestellt. Die Lamas sind nicht nur Kunstschmiede und Kunsttischler, sie befassen sich auch mit der Herstellung mechanischer Triebwerke, und es gibt unter ihnen nicht wenige talentierte Maler, Graveure und Schnitzer. Nichtsdestoweniger geht es heute mit diesen Künsten bergab.
Für die Mongolei ist die Blütezeit der lamaistischen Religion und ihrer Schulen nun einmal vorbei; es gibt eine ganze Reihe von Ursachen sozialer und ökonomischer Natur, die zu ihrem Verfall geführt haben. Das quantitative Anwachsen der Lamaschaft hatte Auswirkungen auf die Qualität. In dem Augenblick, als die religiöse Bewegung Massencharakter annahm, gewannen materielle Gesichtspunkte die Oberhand, und die fromme Lehre von der Nichtigkeit der Dinge des täglichen Lebens machte einer Sucht nach materiellen Gütern Raum. Die Folge war, dass sich die Masse der Lamas in ganz gewöhnliche weltliche Männer verwandelte, denen längst nichts Menschliches mehr fremd war. Die scheuten sich nicht mehr, die materiellen Interessen der Lamaschaft auf Kosten der Interessen der Bevölkerung zu verteidigen und maßten sich das Recht an, das Volk zu beherrschen, das ihnen vertraute und sie als Menschen verehrte, die die edlen Gebote Buddhas erfüllen.
1911 wurde Dshawsandamba Chutagt, das Oberhaupt der Nördlichen Buddhisten, zum Bogdchaan und damit zum unumschränkten geistlichen und weltlichen Herrscher der Mongolei erklärt. „Begehren erzeugt Begierde“, sagen sie, und das traf denn auch für den machttrunkenen herrschenden Adel zu, dessen sittlicher Verfall nicht mehr aufzuhalten war. Der denkende Teil des mongolischen Volkes erkannte nun auch das wahre Gesicht der Lamas: gewöhnliche Ausbeuter, die keinerlei Vergötterung verdienten. So wurde der Boden für die Revolution und die Ideen der sozialen Gerechtigkeit vorbereitet, die, aus dem benachbarten Russland kommend, 1921 bereits tief in das mongolische Steppenland vorgedrungen waren. Die Macht des Bogdchaan wurde eingeschränkt, die ungerechtfertigten Privilegien der Kirche für hinfällig erklärt.
Jetzt müssen die eingeleiteten Reformen stabilisiert und vertieft werden. Es hat sich auch gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn man sich auf politische und wirtschaftliche Maßnahmen beschränkt. Vielmehr kommt es jetzt darauf an, das Volksbewusstsein und die Erziehung der jungen Generation in die erforderliche Richtung zu lenken, und dazu muss man der Konterrevolution zuerst einmal die Schule, eine ihrer wichtigsten Waffen, entreißen und ganz in die eigene Kompetenz übernehmen. Wir müssen die Schule von der Kirche loslösen und in ihr die ganze junge Generation, und mehr noch: auch die Erwachsenen, erfassen und ihnen Wissenschaften vermitteln, die als Grundlage für eine moderne materielle und geistige Kultur dienen können.
Damit ist keineswegs gesagt, dass es schon reale Möglichkeiten für eine sofortige Auflösung der Klosterschulen gäbe. Diese werden wohl, wie es aussieht, noch eine Weile bestehen bleiben, denn wenn für alle Kinder im schulfähigen Alter eine Schulpflicht eingeführt werden soll, müssen wir garantieren können, dass alle die Möglichkeit haben, soundsoviel Jahre eine staatliche Schule zu besuchen. Diese muss so beschaffen sein, dass sie in ihrer Methodik modernsten pädagogischen Gesichtspunkten genügt und den Anforderungen gerecht wird, die das Leben und der Zeitgeist an sie stellen; sie muss der Öffentlichkeit vor Augen halten, dass sie eben dadurch der alten Schule überlegen ist. Dann – daran gibt es keinen Zweifel – werden die jungen Menschen auch die Klosterschulen verlassen und in hellen Scharen in die neuen Bildungseinrichtungen drängen.
Um die Aufgaben der Volksbildung organisatorisch zu bewältigen, müssen wir von unserem Nachbarland, der UdSSR, lernen, deren soziale Ordnung den Völkern des Ostens nahe steht. Hier sollten wir unsere Vorbilder suchen. Aber auch von den anderen Völkern, bei denen Wissenschaft und Kunst sich auf einem hohen Entwicklungsstand befinden, müssen wir lernen.
In diesem Zusammenhang ist es für uns überaus aufschlussreich, wie die Völker der UdSSR, die mit uns sprachlich verwandt sind und uns in ihrer Lebensweise nahe stehen, sich aus eigener Kraft eine neue Kultur schaffen. Mit lebhaftem Interesse verfolgen die Mongolen jenseits der Grenze, wie die Burjaten, ihre Verwandten, die zur Union der Sowjetrepubliken gehören, und von denen die meisten infolge der Russifizierung vor der Revolution ihr eigenes Schrifttum aufgegeben und ihre Literatur nahezu vergessen hatten, nunmehr ungehindert in ihrer Muttersprache lernen … Mit dem ihr eigenen Enthusiasmus leistet die Jugend dort nicht nur politische Bildungsarbeit, sie legt gleichzeitig auch den Grundstein für ein burjatmongolisches Theater. Man schreibt neue Stücke, und diese werden mit Erfolg an den Volkstheatern aufgeführt. So gibt es vieles, was uns interessiert. Nicht ohne Grund sagte Wladimir Iljitsch (5)  bei unserer Begegnung 1921, dass es für uns sicher interessant wäre, wenn wir uns näher mit der Kulturarbeit in den fernöstlichen Sowjetrepubliken beschäftigen würden.
Dennoch scheinen sich manche Leute zu fragen, ob das denn nicht Auseinanderentwicklung sei; die Entwicklung solle uns doch nicht trennen, sondern einander näher bringen. Mir scheint es richtiger, im nationalen und kulturellen Wiedererwachen dieser kleinen Völkerschaften einen Ausdruck dafür zu sehen, dass sich dort vermittels einer Vielzahl künstlerischer Formen – die einem einheitlichen Inhalt zum Ausdruck verhelfen – ein Prozess schmerzloser Einigung vollzieht.
Überhaupt ist das Wiedererwachen der Völker des Ostens jetzt, im 20. Jahrhundert, da in den westlichen Ländern die kulturellen Werte einer Neubewertung unterzogen werden, außerordentlich interessant. Dieses Erwachen hat gerade erst begonnen, und deshalb stellt uns die Frage, wie schnell es damit vorangehen wird und was hierbei im einzelnen getan werden muss, vor „methodologische“ Probleme.
Ich fürchte, mit meiner Redseligkeit habe ich Ihre Aufmerksamkeit vielleicht über Gebühr in Anspruch genommen. Wenn Sie genauer wissen möchten, was in der Mongolei im kulturellen Bereich getan wird, werde ich Ihnen mit größter Freude schreiben.

In aufrichtiger Verehrung

Ihr Erdene-Batchaan

PS: Wir stehen vor der dringenden Aufgabe, mit der Übersetzung russischer Belletristik in die mongolische Sprache zu beginnen. Aber von welchen Grundsätzen sollen wir dabei ausgehen, womit anfangen und wie? Ihre Hinweise wären für uns außerordentlich interessant und wertvoll. Unsere Kräfte sind begrenzt, zuviel auf einmal können wir nicht bewältigen. Deshalb müssen wir aus der Fülle das aussuchen, was sich am besten eignet und was dem mongolischen Verständnis am nächsten kommt. E.B.

(Aus dem Mongolischen von Renate Bauwe)

  1. Erdene-Batchaan oder Erdene Batchan (1888-1947), eigentlich Nikita Fedorowitsch Batuchanow: Herausragender Vertreter der progressiven mongolischen Intelligenz; kam (als Emigrant?) 1912 aus Russland in die Mongolei, wo er zunächst als Lehrer, später als Sekretär der Provisorischen Volkregierung, Übersetzer im Außenministerium und Beamter für Schulwesen tätig war; 1925-1929 Minister für Volksbildung; 1940 in der UdSSR wegen „politischer Vergehen“ zu 8 Jahren Haft verurteilt, posthum rehabilitiert. 
  2. Entnommen dem Band Idevchtej zarčim, Ulaanbaatar 1975, S. 9-13.
  3. P. P. Krjutschkow: Sekretär Maxim Gorkis; gehörte 1938 zu den 21 Beschuldigten, die im 3. Moskauer Prozess  zum Tode verurteilt wurden.  
  4. Tsongkhapa (1357-1419): tibetischer Reformator, aus dessen Lehrdarlegung die Gelug-Schulrichtung des tibetischen Buddhismus hervorging. Die mongolischen Buddhisten sind im wesentlichen Anhänger Tsongkhapas.
  5. Gemeint ist Wladimir Iljitsch Lenin.

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