Mongolische Literatur

Brief Maxim Gorkis (1) an D. Erdene-Batchaan (2)

Italien, Sorrento, 19. Mai 1925
Sehr geehrter Erdeni-Batuchan!

Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihren überaus interessanten Brief. Sie haben mir eine deutliche Vorstellung davon gegeben, wie groß und wie schwer die Aufgaben sind, die sich die mongolische Intelligenz gestellt hat. Erlauben Sie, dass ich Ihnen und Ihren Genossen dazu von ganzem Herzen guten Mut wünsche. Möge an keinem Tag Ihres Lebens der feste Glaube daran erschüttert werden, dass Sie etwas Großes und Wichtiges in Angriff genommen haben. Es gibt auf der ganzen Welt keine wichtigere und keine schwierigere Arbeit als die von Ihnen, der mongolischen Intelligenz, so mutig begonnene.
Sie schreiben: "Unsere Kräfte sind begrenzt". Das sollte Sie nicht beunruhigen; denn wichtig ist nicht die Quantität, sondern die Qualität der Kräfte. Sie wissen ja, dass sich die schwerfälligen Millionen der russischen Bauernschaft kraft einiger Dutzend entschlossener Menschen zu einem neuen Leben vorwärts bewegen.
Sie fragen, an welche Prinzipien Sie sich bei der Übersetzung russischer schöngeistiger Literatur in die mongolische Sprache halten sollen. Auf diese Frage kann ich kaum mit einer Sie befriedigenden Genauigkeit antworten. Soweit ich aber aufgrund von Büchern, die ich über die Mongolei gelesen habe, die Seele eines Mongolen beurteilen kann, meine ich, dass für Ihr Volk vor allem die Propagierung des Prinzips der Aktivität nützlich wäre. Einer aktiven Einstellung zum Leben verdankt Europa all das, was in ihm schön ist und die Verehrung aller Rassen verdient.
Buddha lehrte, Begehren sei die Quelle des Leidens. Europa aber ist vielen Völkern der Welt in Wissenschaft, Kunst und Technik gerade deshalb vorangegangen, weil es niemals fürchtete, leiden zu müssen, wenn es immer etwas noch Besseres begehrte, als das, was es schon besaß. Europa hat es verstanden, in seinen Volksmassen das Streben nach Gerechtigkeit zu wecken, nach Freiheit, und allein dafür müssen wir ihm die Vielzahl seiner Sünden und Verbrechen verzeihen.
Ich denke, wenn Sie das mongolische Volk mit dem Geiste Europas und den derzeitigen Wünschen seiner Massen bekannt machen wollen, sollten Sie gerade die europäischen Bücher übersetzen, in denen das Prinzip der Aktivität und der geistigen Anspannung am deutlichsten zum Ausdruck kommt, wo es um einen Gedanken geht, der zur tätigen Freiheit drängt und nicht zur Freiheit des Müßiggangs.
Nützlich wären vielleicht Biographien von Wissenschaftlern wie Pasteur (3) oder Faraday (4), bzw. von Persönlichkeiten wie Franklin (5) oder Garibaldi (6). Solche Biographien sind von keinem geringeren erzieherischen Wert als schöngeistige Literatur. Was letztere betrifft, sollten sie die Werke auswählen, die am überzeugendsten den Heldenmut von Menschen zeigen, die sich von den Ideen der Gerechtigkeit und Freiheit leiten lassen.
Es fällt mir schwer, auf Anhieb die Bücher zu nennen, die in dieser Hinsicht besonders charakteristisch sind, aber wenn Sie möchten, denke ich darüber nach und stelle Ihnen eine entsprechende Liste zusammen. 

Im Moment jedoch drängt es mich, Ihren Brief recht schnell zu beantworten und Ihnen und Ihren Freunden noch einmal guten Mut und Selbstvertrauen zu wünschen.
M. Gorki.


(Übersetzung: Renate Bauwe)


Anmerkungen:

  1. Entnommen dem Band Kniga Bratstva, Moskau-Ulaanbaatar 1971, S.166-167; erstmals veröffentlicht in der Zeitung "Izvestija Ulanbator Choto" 1925/186)
  2. Erdene-Batchaan oder Erdene Batchaan (1888-1947), eigentlich Nikita Fedorowitsch Batuchanow: Herausragender Vertreter der progressiven mongolischen Intelligenz; kam (als Emigrant?) 1912 aus Russland in die Mongolei, wo er als Lehrer, Sekretär der Provisorischen Volkregierung, Übersetzer im Außenministerium und Beamter für Schulwesen tätig war; 1925-1929 Minister für Volksbildung; 1940 in der damaligen UdSSR wegen „politischer Vergehen“ zu 8 Jahren Haft verurteilt. Die Umstände seines Todes sind bis heute unklar. Posthum rehabilitiert.
  3. Pasteur, Louis: franz. Naturforscher, 1822-1895
  4. Faraday, Michael: engl. Physiker und Chemiker, 1791-1867
  5. Franklin, Benjamin: am. Staatsmann und Gelehrter, 1706-1790
  6. Garibaldi, Giuseppe: ital. Nationalheld 1807-1882

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