"Mann und Wolf" aus Comic Artist Otgonbayar, E"Mann und Wolf"
Zeichnung aus dem Comic von
Otgonbayar, E

Mongolische Literatur

Wie es kam, daß der Wolf und der Mensch aus einem Topf essen.

... Von überallher ergossen sich gewaltige Wasser: vom Himmel und aus der Erde, sie brodelten und glucksten wie gärender, brauner Joghurt und hatten schon beinahe den Gürtel der Berge erreicht. Eine Sintflut war gekommen. Mensch und Tier, die Steppe und die Niederungen - alles ertrank und verschwand. Man sagt, daß damals an der Oberfläche des großen Wassers, daß sich  zwischen den Bergen des Altai und des Changai erstreckte, riesige Wale geschwommen sein sollen, wie sie Tausende Meilen weit entfernt in tiefen Ozeanen vorkommen. Und man sagt, daß die Vögel keinen Ort mehr fanden, an dem sie sich niederlassen konnten um auszuruhen. Vor Erschöpfung fielen sie ins Wasser und ertranken. Die Welt war voller Wasser, und nichts anderes mehr war zu sehen als die Wogen, die, Hengsten gleich, heranstürmten und sich hoch aufbäumten, wild und kraftvoll. Dazwischen schauten nur noch die Gipfel von Altai und Changai hervor.
Nur eine Wölfin, so wird erzählt, hatte am Rande des großen Wassers überlebt. Sie war schon viele Tage lang ohne Schlaf und ohne Rast vor dem Wasser geflohen. Als sie schließlich im Stehen einschlief, kaum so lange, daß ihr Atem sich beruhigte - denn sie war am Ende ihrer Kraft - träumte ihr, sie wäre in der weiten Steppe in ein Rudel Antilopen eingefallen, hätte einen fetten Bock gerissen und fräße nun das weiche, vom heißen Blut triefende Fleisch. Da erwachte sie und merkte, daß das große Wasser noch näher gekrochen war und ihr schon bis an den Bauch reichte. Und so kämpfte sie sich weiter bergan. Sie wußte nicht, was noch geschehen würde, wovon sie leben sollte und ob dieses riesige Wassermeer je wieder zurückgehen würde. Nur eines wußte sie: Der einzige und letzte Ort, der ihr Sicherheit bot, war der Eisgipfel des großen Altai.
Wenn ihre Kräfte versiegten, was sollte dann aus dem kleinen Menschenkind werden? Dem Kind, das sie auf dem Nacken trug, sein Leibchen aus Antilopenfell fest zwischen den Zähnen? Warum diese Wölfin ihre eigene Brut verlassen hatte, um mit einem Menschenknaben in den Fängen den schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlangzuhetzen, das weiß niemand. Das Kind weinte. Die Wolfsmutter verschnaufte einen Augenblick und bot ihm ihre Zitzen, die vor kurzem noch sechs Welpen genährt hatten. Als der Knabe satt war, fühlte auch sie Erleichterung in ihren vom Milchdrang schmerzenden Zitzen.
Doch da hatte das große Wasser sie schon wieder eingeholt. Riesige Gischtberge rollten ihr entgegen, hoch aufspritzend bis zum Himmel, um sie zu packen und zu verschlingen. Wieder sprang die Graue Wolfsmutter vorwärts, in großen Sätzen, wieder klammerte sich das winzige Menschenkind an sie, und so retteten sie sich mit Müh und Not auf den Gipfel des Altai.
Doch das Wasser stieg weiter. Zum Schluß war der Gipfel des Altai nur noch eine kleine Insel in einem weiten Ozean. Nun gab es keinen Ort mehr, an den die Wolfsmutter flüchten konnte. Wohin sie auch sah - nur wogendes Wasser. Um in ihre Heimat zu gelangen, wo sie glücklich und unbeschwert gelebt hatte, hätte sie hinabtauchen müssen in das große Meer. Auf seinem Grund befand sich ihre Höhle. Auch die Wohnstätte des Knaben war dort.
Schon spülte die Flut über den Gipfel des Altai. Die Graue Wolfsmutter nahm das Kind zwischen ihre Fänge. Das Wasser umspühlte schon ihre Knie. Sie setzte das Kind auf ihren Kopf. Dann hub sie an zu einem letzten langen, klagenden Geheul.
Heulend rief sie den Gott Churmast droben im Himmel, heulend rief sie die Mutter Erde und ihre Götter, die Lus, flehte sie an, ihr Leben zu retten. "Soll so der Nabelstrang der Menschheit reißen?" heulte sie. "Soll so das Geschlecht der Grauen Wölfe untergehen? Wer soll Euch dann, ihr Götter, das Herz erfreuen? Wer soll dann auf Eurem Schoße spielen? Was wollt ihr mit einer finstren Welt, ohne heißes Leben, ohne warmes Blut? Was wollt ihr mit kaltem Eis?" So rief und heulte die Wölfin immer und immer wieder, sagt man.
Und man sagt, daß der Himmelsgott Churmast, als er diese Worte vernahm, seine Wolken verjagte, und die Erde und die Lus ihre Wasserfluten zurückzogen. Doch man sagt auch, daß das große Wasser, noch ehe es wieder den Gürtel des Altai erreichte, zu Eis gefror. Auf dem Berg in seiner Hülle von Eis, so sagt man, blieben die beiden zurück, die Graue Wolfsmutter und der Knabe...
...Inmitten dieser Eiswüste nährte die Graue Wolfsmutter den Knaben mit ihrer weißen Milch, während sie selber Gras fraß. Dann nahm sie das Kind wieder auf den Rücken und begab sich auf die Suche nach Menschen. Niemand weiß, wie viele Jahre die Graue Wolfsmutter umhergezog, von einem Gipfel zum anderen, und in welche Gegenden der Welt der Weg sie führte. Es heißt, daß sie ihre festen, scharfen Pfoten abwetzte, so daß nur noch die Krallen übrigblieben. Doch wie dem auch sei, am Ende fand sie einen Menschen. Nun war der Knabe nicht mehr allein, doch die Wölfin konnte vor Erschöpfung keinen Schritt mehr tun. Der Knabe pflegte seine Wolfsmutter, damit sie wieder zu Kräften käme, doch alles war umsonst.
"Graue Wolfsmutter, wie kann ich Euch retten?" fragte der Knabe. "Such mir nur ein kleines bißchen Fleisch, dann sterbe ich nicht. Noch meine Kinder und Kindeskinder werden deine Tür bewachen, sie werden ihren Kopf in deinen Schoß legen und als liebe Brüder bei dir bleiben", antwortete sie.
Der Knabe fütterte sie mit dem Fleisch der toten Fische, die die Sintflut zurückgelassen hatte. Doch die Wölfin konnte nicht genesen. "Ich glaube", sprach sie, "wenn ich nur ein einzigesmal den Geschmack von heißem Blut auf meiner Zunge spüren würde, dann könnte ich gewiß wieder aufstehen." Da schnitt sich der Knabe ein wenig Fleisch aus seinem Gesäß und gab es ihr.
Als die Wolfsmutter das Fleisch gekostet hatte, lebte sie auf. "Wohlan," sagte sie, "nun werde ich nicht sterben. Du und ich, wir haben nicht nur einander gerettet, sondern auch unsere Nachkommenschaft und unsere Art. Es wird das Los deiner und meiner Nachkommen sein, sich von Fleisch zu ernähren. Und solange es euch Menschen gibt, werden auch wir Wölfe da sein. Daß ich dich gerettet habe, hat einen tiefen Sinn: Ich tat es, um auch mein Geschlecht vor dem Untergang zu bewahren. Als wir beide auf dem Gipfel des Altai dem Ertrinken nahe waren, haben Churmast und die Lus mein Rufen erhört und ihre Wasser zurückgezogen. Das taten sie gewiß nicht ohne Grund. Bestimmt haben sie Tiere am Leben gelassen, die uns zur Nahrung dienen sollen. Such diese und bring sie her!" sagte sie. Der Knabe brach auf und fand fünf Arten von Herdenvieh. Damit brachte er seine Graue Wolfsmutter wieder zu Kräften. Fortan hüteten am Tage die Menschen und nachts der Wolf die Viehherden. Die Herden wurden ihre Nahrung, und sei teilten sie miteineinder. Seitdem ist es üblich, daß Menschen und Wölfe in der ersten Zeit ihres Lebens Milch trinken, später aber ernähren sie sich von Fleisch. 
Irgendwann, als die Flut versiegt und der Same derer, die überlebt hatten, wieder zahlreich geworden war, verfielen einige aus der Nachkommenschaft der Grauen Wölfin dem Gelüst auf Menschenfleisch und fielen über die Leichname der verstorbenen Vorfahren her. Die Menschen schossen mit Pfeilen auf sie und jagten sie fort. Die von den Leichnamen gefressen hatten, wurden zu den Wölfen, die wir heute keennen. Die es nicht gewagt hatten, wurden zu Hunden. Wir Mongolen aber sind die Nachkommen jenes Knaben. Unsere Kinder haben, wenn sie geboren werden, einen blauen Fleck auf dem Steiß. Man nennt ihn den "Mongolenfleck". Er kommt daher, daß unser Ahn mit der Milch der Grauen Wolfsmutter aufgezogen wurde. Das Herdenvieh hat der Mensch in Besitz genommen, der Hund verteidigt es und der Wolf stielt es, und so essen wir alle aus demselben Topf. Seht ihr, wir sind alle miteinander Fleischfresser...


Übersetzung und Bearbeitung Renate Bauwe, Januar 1995 / September 2000. Nach: D. Norow, Serewger chadny dsergelee. UDsU.


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