Mongolische Literatur

Renate Bauwe

Jagdkult und seine Reflexion in der mongolischen Dichtung

Der Übergang vom Jägertum zur Weidewirtschaft vollzog sich auf dem Territorium der heutigen Mongolei im wesentlichen während der Bronzezeit, d.h. etwa seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. (1) Ungeachtet dessen blieb die Jagd bis in die Ge-genwart ein wichtiger Nebenwirtschaftszweig der mongolischen Viehzüchter.
In mittelalterlichen Chroniken und Reiseberichten (2) ist die Rede von groß angelegten Treibjagden, an denen sich mehrere Tausend Jäger beteiligten. Sie dien-ten nicht nur dem Vergnügen des mongolischen – und später auch des man-dschurischen – Adels und der allgemeinen Versorgung mit Fleisch und Fellen, sie waren gleichzeitig ein in Jahrhunderten und Jahrtausenden erprobtes und bewährtes Mittel zur kriegerischen Ertüchtigung der männlichen Jugend. Treibjagden mit dem Charakter einer militärischen Übung wurden noch um die Wen-de vom 19. zum 20. Jahrhundert durchgeführt. (3)
In den wald- und gebirgsreichen Gebieten des Nordens und Nordwestens, vor allem bei den Urjanchai, den Darchad und den Burjaten blieb die Jagd bis ins 20. Jahrhundert Haupterwerbsquelle vieler Familien. Mit der Jagd wurde dort ein relativ umfangreicher Komplex uralter Bräuche und Riten überliefert, die auch eine ausgeprägte dichterische Komponente besitzen: alliterierende Segnungen und Beschwörungen, Opfer- und Dankgebete an die Berggottheiten u. dgl. Sie bezeugen, dass sich gerade im Jagdkult – den synkretistischen Bemühungen des Lamaismus zum Trotz – starke Relikte schamanistischer und vorschamanistischer Weltsicht bewahren konnten. Bei den mongolischen Jagdriten inkl. ihrer dichterischen Äußerungen lassen sich grundsätzlich zwei Komplexe unterscheiden. Der erste umfasst die Phase der Vorbereitung auf die Jagd und ist in seinen wichtigsten Erscheinungen dem Höhen- und Feuerkult zuzuordnen. In Bezug auf einzelne Jagdtiere ist er wenig spezifisch. Der zweite Komplex bezieht sich auf den Umgang mit dem erlegten Tier. Er enthält neben Dankbarkeitsbezeugungen für die Gottheiten der Jagd auch Rudimente eines Abwehrzaubers, durch den die möglicherweise auf Rache sinnende Seele des getöteten Tiers und seine Artgenossen besänftigt oder gebannt werden sollten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hierbei einige Details, die sich auf den Hirsch, den Bären und den Wolf beziehen, also auf Tiere, die für viele zentralasiatische und sibirische Völker als Totem belegt sind.
Einer Jagd gingen stets größere oder kleinere Opferhandlungen voraus. Bei den großen Treibjagden versammelten sich alle Jäger auf einem Berg, ehrten die Gottheiten, von denen sie Jagdglück erhofften, mit Libationen und Tieropfern und priesen sie in hymnenartigen Gesängen (magtaal). Bei den Urjanchai war es üblich, dass am Vorabend der Jagd ein Epensänger (tuul’č) das „Altajn magtaal“ (Lobpreisung des Altai) vortrug, einen in vielen Versionen überlieferten Hymnus auf die Schönheit der Bergwelt.
Auch am abendlichen Lagerfeuer trugen die Jäger Magtaale und Märchen vor, insbesondere dann, wenn das Jagdglück ausblieb. Diese Aufgabe übernahm in der Regel ein Jäger, der besonders große Autorität genoss. Berühmte Jäger lie-ßen sich gelegentlich sogar von einem professionellen Epensänger begleiten. Solche Veranstaltungen waren keineswegs als bloßer Zeitvertreib gedacht; sie sollten die Berggeister herbeilocken, ihnen Freude bereiten und sie freigiebig stimmen. (4)
Auch in dem Falle, dass die Jäger einzeln oder in kleinen Gruppen jagten, befolgten sie die altüberlieferten Rituale. Auf jeden Fall brachten sie, bevor sie von zu Hause aufbrachen, dem Herdfeuer, ihren persönlichen Schutzgeistern und den genii loci Speise- und Trankopfer dar, die allerdings in den meisten Fällen eher symbolischen Charakter besaßen. An sich selbst vollzog der Jäger eine rituelle Reinigung, in die er auch seinen Jagdhund und die Packriemen (ganzaga) seines Sattels mit einbezog. Noch 1967 erinnerte sich ein alter Arate aus dem heutigen Bulgan Aimak an einen Brauch mit der Bezeichnung „untuu gargach“ oder „untuu tavich“ (etwa: das Übel austreiben). Dazu schritt der Jäger zwischen zwei reinigenden Feuern hindurch. Seine Frau oder ein Kind schlugen ihm dabei mit den dornigen Ruten der Goldkaragana (altan chargana) auf den Rocksaum und riefen „untuu tav’! untuu tav’!“ (etwa: lass das Böse heraus!). Die Jagdhunde wurden ebenfalls zwischen zwei Feuern hindurchgeführt, wobei man ihnen mit ebensolchen Zweigen auf die Schnauzen schlug. (5) Auf diesen Brauch bezieht sich folgender Spruch, den der Jäger beim Aufbruch von zu Hause sprach:

    Chan buural Changaj min’
    Öndör ich övört čin’
    Örgön ich sugand čin’
    Uu ich ard čin’
    Idee budaany deežijg örgösöör
    Ödij chürsen ard bid čin’
    An göröönd arvan gurvan sangaa tav’ž
    Deežee örgööd odoo mordoch gež bajna.
    Sogoo geed tomdochgüj
    Sojr geed žižigdechgüj
    Najman ganzaga navtruulž chajrla
    Navtgar chormoj custaž chajrla
    Ganzaganychaa atiraag gargaž
    Gal ich ulaan galdaa
    Borvoon nuuryn
    Bor davsyg šataaž örgööd
    Örgöst altan charganaar
    Avgaj chüüchdeeree untuugaa garguulž
    Chormoj uruugaa šavšuurduulaad
    odoo mordloo gež garč baina.
  (6)


Karaganazweige spielten bei den Mongolen eine wichtige Rolle im Abwehrzauber gegen Dämonen. (7) Das Verbrennen von Salz sollte Glück bringen und wurde bei der Jagd, vor Handelsgeschäften und anderen wichtigen Unternehmungen praktiziert.
Auch das Jagdgewehr wurde einer besonderen Behandlung unterzogen. Um es zu erfreuen und zu motivieren, wurde es mit Butter bestrichen, d. h. „gesalbt“. Auch hierzu wurden Gebete und Beschwörungen gesprochen. Ein solches „Salbungsgedicht“ (mjalaalga), aufgezeichnet von B. Rinčen (8), beginnt mit einer ins Detail gehenden Lobpreisung des Gewehrs. Sein Leib wird mit dem eines Löwen verglichen, seine Stimme mit der eines Drachen, die Kraft des Schusses mit dem Zupacken des mythischen Vogels Garudi. Das Gedicht endet mit dem eigenartigen Wunsch, die Ärmel des Jägers mögen mit Blut und seine Rockschöße mit „sevs“ besudelt werden, womit der halbverdaute Mageninhalt von Wiederkäuern bezeichnet wird. (9) Hinter dieser Phrase verbirgt sich folglich der Wunsch, einen Hirsch, ein Reh oder ein ähnliches Tier zu erlegen. Sie ist in Zusammenhang mit einem Tabu zu sehen, demzufolge die Namen der Jagdtiere nicht ausgesprochen werden durften (s. u.).
Eine „Salbung“ des Gewehrs nahmen die Jäger auch dann vor, wenn die Jagd erfolglos verlief und das Jagdglück neu beschworen werden musste. Nach Galdanova (10) schloss sich die Zeremonie an den Vortrag von Märchen an. Der Märchenerzähler spießte ein Stück Fett von einem Schafsschwanz auf den Ladestock seines Gewehrs; die anderen Jäger taten Fett in ihre Trinkschalen und winkten damit die „Herren der Berge“ herbei, wozu sie wiederholt „Churuj! churuj!“ riefen.
Welche Gottheiten die Jäger im einzelnen verehrten, geht z.T. aus den einleitenden Zeilen einer bei den Darchad überlieferten Anrufung hervor:

    Oron Changaj min’
    Ogtorguj Churmast tenger min’
    Bajan Changaj min’
    ...
    Bajan Manachan olzyg chajrla (11)!

Mit Bajan Changaj oder Bajanchangaj (Reicher Changaj) wird der Herr der Erde angesprochen. Nach den Vorstellungen der Mongolen ist er eine gütige Gottheit. Ihr gehört alles Wild der Erde, doch sie lässt die Menschen daran teilhaben, wenn man sie darum bittet. Auf diese sehr alte mongolische Jagdgottheit führt S. Dulam (12) den Namen des Gebirges Changaj zurück.
Churmast tenger ist eine Adaption des iranischen Lichtgottes Ahūramazda (Ormuzd). Bei den Mongolen gilt er als Herr über eine Gruppe von 33 schamanistischen Himmelsgöttern, manchmal auch als der oberste der 55 Götter des Westens, also derjenigen, die den Menschen wohlwollen. Manchmal wird Churmast auch als der oberste Himmelsgott überhaupt verehrt und in diesem Sinne dem „Ewigen Himmel“ (möngke tngri) gleichgestellt.
Manachan ist ebenfalls eine alte mongolische Jagdgottheit aus vorbuddhisti-scher Zeit. Er wird als Gebieter über die wilden Tiere verehrt. Mongolische Feldforscher haben mehrere Opfergebete an Manachan feststellen können. (13) Sie bestätigen die hervorragende Rolle, die diese Gottheit einmal im Jagdkult der Mongolen gespielt haben muss.
Zu den von mongolischen Jägern verehrten Gottheiten gehören auch solche mit lokalem Charakter wie Alia Chongor, der ewig 25jährige jugendliche Herr des Altais, der ein edles Pferd mit Namen Aranz ulaan reitet. Er wird in einer Version des „Altajn magtaal“ besungen, die bei den Urjanchai vor dem Vortrag eines Heldenepos rezitiert wurde. (14) Dazu kommt eine unübersehbar große Anzahl von „Herren“ und „Herrinnen“ einzelner Berge.
Ihnen trugen die Jäger ihre Wünsche vor. In einem Opfergebet an Manachan heißt es u.a.:
    … toγon–dur ülü baqtaqu
    toluγayitu-yi öggön soyurq-a,
    egüden-dü ülü baqtaqu
    eber-tü-yi öggön soyurq-a
    qariγulju ülü bolqu
    qandaγai görögesün-eče öggön soyurq-a
    qajaγarlaju ülü bolqu
    qara ötege-eče öggön soyurq-a,
    kögegejü ülü bolqu
    kökö čino-a ača öggön soyurq-a,
    kötöljü ülü bolqu
    šara ünegen-eče öggön soyurq-a,
    öggiyemür manaqa tngri minu. (15)

In einem anderen, ebenfalls an Manachan gerichteten Gebet heißt es:

    … ööchöö daachgüj targanaas n’
    övsöö daachgüj chögšnöös n’
    ideched arvin, edleched sajnaas n’ ögön sojorch. (16)

Häufig trifft man auf die – zuweilen geringfügig abgewandelte Formel

    Najman ganzagyg min’ custan chajrla,
    Saarin garyg min’ toston chajrla! (17)

Wie oben erwähnt, gehörten die Packriemen des Sattels ebenfalls zu den Objekten, denen bei der Vorbereitung zur Jagd besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Schließlich sollten sie auf dem Saumpferd des heimkehrenden Jägers eine möglichst reiche Jagdbeute umspannen. Aus diesem Grunde wurden die Packriemen in die rituelle Reinigung mit Hilfe von Weihrauch mit einbezogen. Nach diesem Ritual haben die Beschwörungen, die bei dieser Gelegenheit gesprochen wurden, ihre Genrebezeichnung „Rauchopfer für die Packriemen“ (ganzagany san).
Vor, während und unmittelbar nach der Jagd hatten die Jäger eine Reihe von Tabus zu beachten. Sie vermieden es z. B., den für die Jagd festgesetzten Termin direkt zu nennen. Um sich dennoch zu verständigen, versuchten sie, ihn irgendwie zu umschreiben oder durch Gesten anzudeuten. Vor der Jagd, gewissermaßen vor dem Angesicht der Jagdgottheiten, durften sich die Jäger nicht streiten. Wenn sie kein Wild antrafen, verständigten sie sich auch hierüber nur durch Andeutungen und beschönigende Umschreibungen. Vor allem aber achteten die Jäger streng darauf, dass sie die Namen der Tiere, die sie jagen wollten, nicht aussprachen. Statt dessen gebrauchten sie Euphemismen, Ersatzwörter, von denen es eine erstaunlich große Anzahl gibt. (18) Sie werden auch in der Zeremonialdichtung verwendet.
Die Sitte des Tabuisierens von Namen bestimmter Tiere erklärt sich z.T. aus der abergläubischen Furcht, die Tiere könnten, wenn sie ihren Namen hörten, auf das Vorhaben der Jäger aufmerksam werden und sich zurückziehen. Es sei aber auch an eine Sitte erinnert, der zufolge die Mongolen ihre verstorbenen Angehörigen, aber auch lebende Personen, die besondere Ehrfurcht verdienen oder eines besonderen Schutzes bedürfen, nicht bei ihrem eigentlichen Namen nennen. Die Tabuisierung der Namen des Hirsches, des Wolfes, des Bären und einiger anderer Tiere könnte u. U. auch als Ausdruck der Ehrfurcht vor den Stammes- und Sippentotems gedeutet werden.
Unter allen Jagdtieren brachten und bringen die mongolischen Jäger dem Hirsch die größte Ehrfurcht entgegen. Der Hirsch, so glaubten die Mongolen, achtet stets darauf, dass er sein Geweih nicht beschmutzt. Wenn er stirbt, heißt es, legt er den Kopf ganz vorsichtig auf die Erde, so dass das Geweih nach oben zeigt und nicht mit dem Schmutz des Bodens in Berührung kommt. Gelingt ihm dieses nicht, sehen die Mongolen darin ein böses Omen. Deshalb legten die Jäger beim Abtrennen des Hirschschädels bzw. des Geweihes etwas Weißes darunter: ein Stück Stoff oder einfach die Schöße ihres Deels, der gewöhnlich aus weißgegerbtem Fell genäht wurde und aus praktischen Gründen kürzer als der eines Hirten war. So erklärt sich auch der Sinn der häufig gebrauchten Phrase von den „Blutbefleckten kurzen Rockschößen“.
Bevor das Fleisch des Hirsches zerlegt wurde, stellte der Jäger das Geweih ins Geäst eines Baumes, verneigte sich dreimal davor und dankte dem Changaj (Bajanchangaj) für seine Gunst. Bei den Darchad wurde bei dieser Gelegenheit folgender Spruch zitiert:

    Altan changaj min’
    Avralt oron min’
    Chajnagijn šar jum uu
    Mongolyn šar jum uu
    Neg šaraa chajrlažee.
    Chezee bolgondoo
    Altan changaj min’
    Namajg težeež javaarai.
    Dargaj evertej buga
    Dalbin čichtej sogoogoo
    Nadad chajrlavaa. (19)

Auf dem Heimweg trug der Jäger das Geweih ehrfurchtsvoll vor sich her. Zu Hause nahm seine Frau es ebenso ehrfürchtig auf ihren Rockschößen entgegen. Dazu kniete sie nieder, legte ihre Kopfbedeckung auf den Boden und verneigte sich dreimal, wobei sie die Verse wiederholte:

    Aj Altan changaj min’
    Chajnag šar jum bilüü
    Mongol šar jum bilüü
    Neg šaraa chajrlažee. (20)

Wenn die Beteiligten hier von einem Ochsen sprechen, wollen sie anscheinend vom wirklichen Geschehen ablenken. In den Tiefen ihres ethisch-religiösen Empfindens hielten die Mongolen das Töten eines Hirsches immer für eine Sünde. Wegen ihres blutigen Handwerks wurden Jäger – nicht nur, wenn sie einen Hirsch getötet hatten – sprichwörtlich als „sündiger Jäger“ (nügeltej ančin) bezeichnet, und trotz aller Achtung vor ihrem Können begegnete ihnen ihre buddhistisch erzogene Umgebung mit einer gewissen Scheu.
Auf den Schößen ihres Deels trug die Frau des Jägers das Geweih des erlegten Hirsches, mit den Enden nach oben, durch den westlichen oder Männerbereich der Jurte auf den Ehrenplatz im Nordteil (chojmor). Niemals wurde ein Hirschgeweih auf der Frauenseite aufbewahrt, denn die Frauen könnten das schwere Stück in den Schmutz fallen lassen. (21) Vielleicht hielt man den Frauenbereich auch nicht für repräsentativ genug.
Auch dem Bären begegneten die Jäger mit Hochachtung. Dennoch trafen sie umständliche Vorkehrungen, um den Zorn des erlegten Tieres von sich abzuwenden. Bei den Darchad lief der Schütze sofort zu dem erlegten Bären, um ihm zu beteuern:

    Chajrchan min’
    Alach gež alsangüj bilee.
    Sum tenež onoson bajna. (22)

Bei den Burjaten ist ein Spruch überliefert, mit dem der Jäger seine „Untat“ gewissermaßen einem anderen Stamm anzulasten versucht:

    Bid čamajg alaagüj,
    čamajg urianchaj, tungus nar agnasan. (23)

Ehe die Jäger dem Bären das Fell abzogen, baten sie ihn höflich:

    Cag üje chüjterč
    Bije machbod min’ daardag bolloo.
    Ilčee chajrlana uu? (24)

Neben solchen kurzen, im sprachlichen Ausdruck sehr schlicht gehaltenen Bä-renbeschwörungen sind auch umfangreichere, dichterisch anspruchsvollere ü-berliefert. Die folgende wurde bei den Darchad aufgezeichnet:

    Ogtorgujgaas ugtaj
    Oron usnaas chöltej
    Chan buural
    Chajrchan aav min’
    Ür ochin chüüched
    Cheregslee daachgüj bolloo
    Eger chaltar nochoj min’
    Ödöö daachgüj ecež
    Turž ölsöž undaasaž bajna.
    Chatuu širüüngüj
    Ajlgaž sürdüülelgüj
    Nomchon dölgöön gadaalan
    Zalarč chajrlagtun.
    Chišig sojorchloos tan’
    Chürtechijn chüsel tun ich bajna. (25)

In der Anrede „grauhaariger Vater“ (buural aav) sehen Ethnologen das Relikt eines totemistischen Bärenkultes. In diesem Zusammenhang sei auch an die burjatische Anrede „baavaj“ für einen Sippenältesten oder andere Respektspersonen erinnert. Sie geht auf die gleiche Wurzel zurück wie „baavgaj“ (Bär). (26)
Aufschlussreich ist der Brauch, den Kopf des Bären auf einem Baum zu befestigen, der auch bei einigen sibirischen Völkern beobachtet werden konnte. Die mongolischen Jäger befestigen den Schädel so, dass er in die ihrer Jurte entgegengesetzte Richtung schaute. In dieser Richtung verließ der Jäger auch, um die Seele des Bären irrezuführen, den Ort des Geschehens. Als zusätzliches Hinder-nis legte er noch 2 – 3 Baumstämme quer über den Weg. (27) 
Zum „Bärenzeremoniell“ der Burjaten gehörte, dass sie den Schädel des erlegten Bären in einem Stück mit Luftröhre, Lunge und Herz abtrennten. (28) Diese Teile werden zusammen als „züld“ (jülde) bezeichnet. Wie aus der „Geheimen Geschichte der Mongolen“ hervorgeht, spielte dieses „züld“ bereits im 12./13. Jahrhundert im Jagdkult der Mongolen eine Rolle. (29) Im schamanistischen Glauben galt es als der Sitz der „Lebensseele“. Deshalb durfte ein Jäger das „züld“ eines von ihm erlegten Tieres nicht an andere Personen weitergeben, sonst würde ihn, wie man glaubte, das Jagdglück verlassen.
Die Baumbestattung des Bärenschädels, ob mit oder ohne Herz und Lunge, er-innert an eine Bestattungssitte, die bei sibirischen und anderen Völkern verbreitet war, vor allem in Zusammenhang mit der Beisetzung von Schamanen. In der Inneren Mongolei musste der Nachfolger eines verstorbenen Schamanen, um in den Besitz von dessen Hilfsgeistern zu kommen, der Seelen seiner Vorfahren, dem Toten den Kopf mitsamt Herz und Lunge, also das „züld“, abtrennen, in einen Baum hängen und davor „schamanisieren“. (30) Dass mit einem toten Bären in ähnlicher Weise verfahren wurde, darf ohne Zweifel als Reminiszenz einer totemistischen Verehrung des Bären gewertet werden.
Erstaunlicherweise sind für den Wolf keine vergleichbaren Rituale überliefert. (31)  Vielleicht genoss der Wolf niemals eine solche Verehrung wie Hirsch und Bär. Möglicherweise ist die Vorstellung vom Wolf als Totemtier auch verdrängt worden, als die Mongolen zur Viehzucht übergingen und sie ihn als Hauptfeind ihrer Herden nicht mehr verehrenswürdig fanden. Auffallend ist auf jeden Fall die untergeordnete Rolle, die der Wolf im Jagdkult der Mongolen des 19./20. Jahrhundert spielt. In den wenigen Belegen geht es vor allem um Abwehrzauber. Wenn ein Jäger z. B. einen Wolf oder seine Welpen getötet hatte, zog er den Dünndarm wie eine Leine über den Weg, um die Artgenossen zu bannen. Dichterische Äußerungen, die eine totemistische Verehrung des Wolfes reflektieren, sind im Brauchtum der mongolischen Jäger offenbar nicht mehr bekannt.
Nowgorodowa spricht im Zusammenhang mit der hunnenzeitlichen Kunst vom Wolf als einem Symbol für den „bösen Anfang, die Zerstörung, den Tod“. (32) Das Element des Bösen ist jedoch nur die eine Seite innerhalb der dualistischen Beziehung von Gut und Böse. Die Frage ist: In welchem Tier sahen die Mongolen den „guten Anfang“ verkörpert? Bei der Suche nach einer Antwort drängt sich ganz von selbst der Gedanke an den Hirsch auf, dessen Sonderstellung in der Vorstellungswelt der frühem Nomaden nicht zuletzt durch Hunderte von „Hirschsteinen bestätigt wird, sakraler Stelen mit typisierten Darstellungen gen Himmel fliegender Maralhirsche. Die Tschingisiden betrachten sich bekanntlich als Nachkommen eines Wolfs und einer Hirschkuh. (33) Die Mongolistik vertritt heute nahezu einhellig den Standpunkt, dass es sich bei köke čino-a und qoa maral nicht um historische Persönlichkeiten handelt, sondern um Sippen- oder Stammestotems. Der Versuch, diese beiden Tiere dualistisch zu interpretieren, zeigt den Wolf als das männliche Prinzip, das erdgebundene, dunkle, zerstörerische Element. Der Hirsch erscheint als das weibliche Prinzip, das mit dem Himmel in Verbindung stehende, lichte, lebensspendende Element. Die Menschen aber, Kinder dieser beiden entgegengesetzten Kräfte, tragen als Erbgut ihrer mythologischen Vorfahren sowohl das Gute als auch das Böse in sich.

Berlin, August 2010.

(Überarbeitete Fassung nach dem gleichnamigen Beitrag von Renate Bauwe in: ALTAISTICA BEROLISENSIA. The Concept of Sovereignty in the Altaic World. Permanent International Altaistic Conference, 34th Meeting, Berlin 21-26 July, 1991. Wiesbaden 1993, S.11-22.)

(1) Vgl. Bügd Nairamdach Mongol Ard Ulsyn tüüch, I. Ulaanbaatar 1966, S.73.

(2) Vgl. u. a. J. A. Boyle, Hg.: The History of the World-Conqueror by ‘Ala-ad-Din ‘Ata-Malik. Manchester 1958, I, S. 27; K. Lech, Hg.: Das mongolische Weltreich. Wiesbaden 1968, S. 98-99; W. v. Rubruck: Reisen zum Großkhan der Mongolen. Stuttgart1984, S. 50; P. J. B. Du Halde: Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’Empire de la Chine et de la Tatarie chinoise, IV. La Haye 1736, S. 311-312; S. Jagchid u. C. R. Bawden: Notes on Hunting of Some Nomadic Peoples of Central Asia. In: Die Jagd bei den Altaischen Völkern (Asiatische Forschungen, Bd. 26). Wiesbaden 1968, S. 91-94.

(3) Vgl. C. Nasanbalžir: Mongolyn až achujn cholbogdoltoj ulamžlal šinečlel (XIX zuuny eces, XX zuuny echen).
Ulaanbaatar 1978, S. 56.

(4) Vgl. Ch. Sampildendev: Malčin ardyn zan üjlijn ulamžlal. Ulaanbaatar 1985, S. 111-112.

(5) Vgl. Ch. Sampildendev, Hg.: Mongol ardyn zan üjlijn aman zochiol. Ulaanbaatar 1987, S. 72.

(6) Ebenda. Übersetzung:
    Mein grauhaariger Changaj Chan,
    An deiner hohen, mächtigen Brust,
    In deinen geräumigen Achselhöhlen,
    Auf deinem mächtigen Rücken (lebend),
    Haben wir, deine Araten, dir stets
    Von unseren Speisen das Beste geopfert.
    13 Rauchfeuer haben wir entzündet,
    Unsere Opfer dargebracht
    Und wollen nun zur Jagd aufbrechen.
    Eine Hirschkuh ist uns nicht zu groß,
    Ein Auerhahn ist uns nicht zu klein:
    Mach, dass die 8 Packriemen reißen,
    Mach, dass der kurze Rocksaum blutig wird!
    Ich (?) habe die Runzeln meiner Packriemen geglättet,
    In meinem großen feuerroten Feuer
    Braunes Salz vom Borvoon-See
    Opfernd verbrannt.
    Mit dorniger Goldkaragana
    Ließ Frau und Kind ich meinen Rocksaum klopfen,
    Um das Übel auszutreiben.
    Nun geh ich hinaus um aufzubrechen.

(7) Um z.B. ein neugeborenes Kind vor bösen Dämonen zu schützen, schlug ein Schamane, ein Lama oder eine andere würdige Person ihm mit Karaganazweigen auf das Wickeltuch. Die Zweige wurden dann am Eingang der Jurte befestigt. In ähnlicher Weise „reinigten“ die Mongolen ihre Jurte nach dem Tode eines Angehörigen.

(8) Vgl. Ch. Sampildendev, Hg.: Mongol ardyn …, S. 70; B. Rinchen: Les materiaux pour l’étüdedü chamanisme Mongol. Wiesbaden 1959, S. 39-40.

(9) Vgl. Ja Cevel: Mongol chelnij tovč tajlbar tol’. Ulaanbaatar 1966

(10) Vgl. G. R. Galdanova: Evoljucija soderžanija ochotnič’ego kul’ta. In: Buddizm i tradicionnye verovanija narodov Central’noj Azii. Nowosibirsk 1981, S. 50; Ch. Sampildedev: Malčin ardyn ..., S. 112.

(11) S. Badamchatan: Chöwsgölijn darchad jastan. In: Studia Etnographica III, Ulaanbaatar 1965, S. 111. Überset-zung:
    Mein Land, mein Changaj,
    Mein Himmel, mein Churmast Tenger,
    Mein Reicher Changaj,
    …
    Reicher Manachan, gewährt mir Beute!

(12) Vgl. S. Dulam: Mongol domog züjn dür. Ulaanbaatar 1989, S. 164. Das Wort “changaj” geht auf den Verb-stamm „qangγa-“ (mit etw. versorgen, zufrieden stellen) zurück.

(13) Vgl.: A. Sárközi: A Mongolian Hunting Ritual. In: Acta Orientalia Academiae Scientarium Hungaricae, Tomus XXV. 1972, S. 191-208

(14) Vgl. D. Coloo, Hg.: Mongol ardyn baatarlag tuul’. Ulaanbaatar 1982, S. 31-32

(15) Če. Damdinsürüng, Hg.: Mongγol uran jokial-un degeji jaγun bilig orusibai. Ulaanbaatar 1959, S.122. Übersetzung:
    Gib von den Tieren, deren Kopf
    Nicht in den Kessel passt,
    Gib von denen, deren Geweih
    Nicht durch den Eingang (der Jurte) passt,
    Gib von den Elchen,
    die man nicht hüten kann,
    Gib von den Schwarzen Alten (Euphemismus für „Bär“),
    Die man nicht zäumen kann,
    Gib von den grauen Wölfen,
    Die man nicht vertreiben kann,
    Gib von den gelben Füchsen,
    Die man nicht führen kann,
    Mein freigiebiger Manachan Tenger.

(16) D. Gongor: Chalch tovčoon, II. Ulaanbaatar 1978, S. 349. Übersetzung:
    Gib von den Fetten, denen ihr Fett zu schwer wird,
    Gib von den Alten, die ihr Gras nicht mehr beißen können,
    Gib von denen, an denen man reichlich zu essen und gute Verwendung hat.

(17) Š. Gaadamba und Ch. Sampildendev: Mongol ardyn aman zochiol. Ulaanbaatar 1988, S. 92. Übersetzung:
Mach, dass meine 8 Packriemen blutig werden,
Mach, dass meine rauen Hände fettig werden! 

(18) Vg. S. Badamchatan: BNMAU-yn ugsaatny züj. Ulaanbaatar 1987, S. 80; Ch. Sampildendev: Malčin ardyn …, S. 111; L. Tüdev: Mongolyn uran zochiolyn ündesnij bolood nijtleg šinž. Ulaanbaatar 1975, S. 72; A. Sarközi: a. a. O., S. 194-199.

(19) Ch. Sampildendev, Hg.: Mongol ardyn …, S. 72-73; S. Badamchatan: Chövsgölijn ..., S. 112. Übersetzung:
    Mein Goldener Changaj,
    Stätte der Wohltaten,
    Einen Chajag-Ochsen
    Oder einen mongolischen Ochsen -
    Einen von deinen Ochsen hast du mir geschenkt.
    Bitte, gib mir immer Nahrung,
    Mein Goldener Changaj!
    Einen Hirsch mit ausladendem Geweih,
    Eine Hirschkuh mit abstehenden Ohren
    Hast du mir geschenkt. 

(20) Ebenda. Übersetzung:
    Ai, mein Goldener Changaj,
    Ist das ein Chajnag-Ochse?
    Oder vielleicht ein mongolischer Ochse?
    Du hast uns einen von deinen Ochsen geschenkt. 

(21) Ebenda. 

(22) Ch. Sampildendev: Malčin ardyn …, S. 119. Übersetzung:
    Mein Lieber!
    Nicht um zu töten, habe ich dich getötet.
    Eine Kugel hat sich verirrt und dich getroffen.

(23) Ch. Sampildendev, Hg.: Mongol ardyn …, S. 73; S. Badamchatan: Chövsgölijn ..., S. 111-112. Übersetzung:
    Nicht wir haben dich getötet.
    Urianchai und Tungusen haben Jagd auf dich gemacht.

(24) Ebenda. Übersetzung:
    Kalt ist es geworden,
    Es friert meinen Körper,
    Gib mir, bitte, deine Wärme!

(25) Ch. Sampildendev, Hg.: Mongol ardyn …, S. 73-74. Übersetzung:
    Im Himmel hast du deinen Ursprung,
    Von Erde und Wasser kommt dein Fuß,
    Mein ehrwürdiger grauhaariger
    Lieber Vater!
    Die Kinder, die Töchter können (vor Schwäche)
    Ihren Schmuck (cheregslee) nicht mehr tragen,
    Mein scheckiger Hund ist so mager,
    Eine Feder kann er nicht mehr tragen.
    Mager sind sie, hungrig, durstig,
    Ängstige sie nicht!
    Sei nicht grob und streng,
    Sei sanft und still,
    Wenn du ausgehst und uns beehrst!
    Wir möchten sehr gern deiner Gaben
    Teilhaftig werden.

(26) Auf die gleiche Wurzel führen mongolische Wissenschaftler das Wort „bagana“ (Säule, Stützbalken) zurück. In den steinzeitlichen Halberdhütten sollen die hölzernen Stützbalken mit dem Bärenkult in Verbindung gestan-den haben. Vgl. hierzu Ch. Sampildendev: Malčin ardyn …, S. 118; D. Majdar und L. Dar’süren: Ger. Ulaan-baatar 1976, S. 120.

(27) Vgl. Ch. Sampildendev: Malčin ardyn …, S. 119; Badamchatan: Chövsgölijn ..., S. 112. 

(28) Vgl. Ch. Sampildendev: Malčin ardyn …, S. 118-119. 

(29) Vgl. E, Haenisch, Hg. u. Übers.: Die Geheime Geschichte der Mongolen. Leipzig 1948, S. 2; Š. Gaadamba: Nuuc tovčoony nuucsaas. Ulaanbaatar 1976, S. 5-6.

(30) Vgl. Š. Gaadamba: Ebenda.

(31) Vgl. S. Badamchatan: Chövsgölijn …, S. 111.

(32) A. E. Nowgorodowa: Alte Kunst der Mongolen. Leipzig 1980, S.203.

(33) Vgl. E. Haenisch: A.a.O., S. 1.

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