C. Damdinsüren
Überblick über die alte mongolische Literatur
Die
Schrift- und Literaturdenkmäler der Mongolen reichen nur bis ins 13.
Jahrhundert zurück. Wenn wir deshalb bei der Betrachtung der
mongolischen
Literatur mit dem 13. Jahrhundert beginnen, tragen wir lediglich dem
Umstand
Rechnung, dass aus einer noch früheren Zeit keine Literaturdenkmäler
erhalten sind.
Wir schließen jedoch nicht aus, dass es bereits vor dem 13. Jahrhundert
eine
schriftlich fixierte mongolische Literatur gegeben haben kann. Die
Turkvölker, die seit dem
7. Jahrhundert das Territorium der heutigen Mongolei besiedelten,
besaßen eine eigene Schrift und eine eigene Literatur, und bis heute
ziehen die steinernen
Denkmäler, die sie hinterließen, mit ihren eingemeißelten Inschriften
die
Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern aus aller Welt auf sich.
Im 5. Jahrhundert gründeten die Tabgači, deren Sprache mit der
mongolischen verwandt ist, die We-Dynastie in Nordchina. Auch sie verfügten zu
jener Zeit bereits über eine eigene Schrift und eine eigene Literatur. Das gleiche gilt
nachweislich für die Kitan im 10. Jahrhundert, und man darf gewiss annehmen, dass
der von diesen Völkern ausgehende kulturelle und literarische Einfluss auch bei
den benachbarten Mongolen wirksam wurde. Bereits im 13. Jahrhundert gab es enorme Unterschiede zwischen der
gesprochenen Sprache der Mongolen und ihrer Schreibweise. So schrieb man z. B. in
uigurischer Schrift aγula
(Berg) und egüde (Tür),
las aber bereits /aula/
und /eüde/.
Für die Entstehung einer derart starken Abweichung bedarf es jedoch mehrerer
Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung. Diese Tatsache ist es vor allem, die zu der
Annahme berechtigt, dass die Mongolen schon lange vor dem 13. Jahrhundert die
uigurische Schrift kannten und gebrauchten.
Das älteste mongolische Schriftdenkmal ist der so genannte „Stein des
Činggis“ (1), dessen Inschrift auf die Zeit um 1225 datiert werden konnte. Sie
enthält die Mitteilung, dass Yesünkei Qonγodor bei einem großen Fest, welches Činggis qaγan (2)
an einem Ort mit dem Namen Buqa sočiqai veranstaltete, mit seinem Bogen
335 Ald (3) weit schoss. Das älteste mongolische Schriftdenkmal wurde also zur
Erinnerung an einen sportlichen Wettkampf errichtet. Das umfangreichste unter den mongolischen Schriftdenkmälern ist die
1240 verfasste „Geheime Geschichte“ (Mongol-un
niγuča tobčiyan), Geschichtswerk und Dichtung in einem.
Sie
gliedert sich in drei Teile: im ersten werden – zumeist in Form von
Legenden – die Ereignisse beschrieben, die sich um das 12. Jahrhundert
in der Mongolei zugetragen haben. Anschließend werden in
chronologischer Reihenfolge einzelne Begebenheiten seit Ende des 12.
Jahrhundert geschildert: Činggis qaγans Jugend, der Zusammenschluss der
mongolischen Stämme durch ihn, seine Ernennung zum qaγan.
Danach folgt eine sehr knappe Beschreibung der Eroberungszüge Činggis
qaγans nach 1211 und der Schaffung des Weltreichs. Viel breiter und
detaillierter verfolgt die „Geheime Geschichte“ die Geschehnisse in der
Mongolei selbst. Der letzte Teil dieses Werkes ist der Regierungszeit
Ögedei qaγans, des Nachfolgers Činggis qaγans, bzw. den Ereignissen von
1227 bis 1240 gewidmet.
Dabei werden die historischen Ereignisse
nicht einfach konstatiert, sondern mit Hilfe literarischer
Gestaltungsmittel in einem Wechsel von Versdichtung und Prosasprache
dargestellt. Der Grundgedanke der „Geheimen Geschichte“ besteht darin,
dass es notwendig sei, die Stammesordnung zu überwinden, d. h. die
zahlreichen zersplitterten mongolischen Stämme zu einem einheitliches
Reich unter einem starken Herrscher zusammenzuschließen. Die politische
Situation in der damaligen Mongolei schildert die „Geheime Geschichte“
folgendermaßen:
„(Es) hatte der Himmel mit seinen Sternen sich gedreht.
Alle Leute standen in Fehde.
Sie kamen nicht in ihre Betten,
sondern raubten sich gegenseitig ihren Besitz.
Die Erde mit ihrer Rinde hatte sich gewendet.
Das ganze Volk war im Aufstand.
Sie lagen nicht in ihren Kissen,
Sondern bekriegten sich gegenseitig.“ (§254) (4)
4 Übersetzung nach E. Haenisch: Die Geheime Geschichte der Mongolen. Leipzig 1948, S. 125f.
Die
Einigung der zahlreichen kleinen zersplitterten Stämme, die einander
unablässig befehdet hatten, durch Činggis qaγan war eine bedeutende
Leistung, die einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprach.
Betrachtet
man die „Geheime Geschichte“ unter künstlerisch-ästhetischen
Gesichtspunkten, so bietet sie zahlreiche Beweise für die hohe
künstlerische Meisterschaft ihres unbekannten Verfassers. Hier möge
ein Beispiel für viele sprechen: Im Text der „Geheimen Geschichte“
wird weitgehend auf eine unmittelbare Glorifizierung Činggis qaγans
verzichtet. Hingegen trifft man häufig auf Passagen, in denen ihn der
Autor aus dem Munde eines der besiegten Feinde rühmen lässt. So klagt
Böke čilger (bei Haenisch: Tschilger boko. – Anm.R.B.), der Činggis
qaγans Gemahlin geraubt hatte, als er, von diesem besiegt, einsam auf
der Flucht ist:
„Die schwarze Krähe
hat nach ihrem Los Fellfetzen als Nahrung.
Dabei aber begehrt sie
Wildgans und Reiher zu speisen.
So bin ich, der gemeine Tschilger,
für die Frau Udschin entbrannt
und bin zum Unheil
für die ganzen Merkit geworden.
Ich, der üble Tschilger niedrigen Standes,
habe das Unheil über mein eigenes schwarzes Haupt gebracht.
Ich will mein einzelnes Leben retten
und mich in die dunklen Schluchten einbohren.
Aber von wem werde ich beschirmt werden!“ (§111) (5)
Und als Činggis qaγan dem gefangenen Jamuqa (bei Haenisch: Dschamucha. –
Anm. R.B.) vorschlägt:
„Jetzt sind wir Beide wieder zusammen.
Laß uns Gefährten sein ...
Wenn wir etwas vergessen haben, wollen wir uns
gegenseitig erinnern.
Wenn wir eingeschlafen sind, wollen wir einander aufwecken“ (§200) (6),
antwortete Jamuqa:
„Zur Zeit, als ich Gefährte sein sollte,
bin ich dir keiner gewesen.
Jetzt hast du, Freund,
die Völker in der Runde
gebändigt
und die Außenländer
zusammengefaßt.
Der Himmel hat dir
den Kaiserthron gezeigt.
Wo jetzt der Erdkreis
dir bereitet ist,
was für ein Gewinn
könnte ich als Gefährte da noch sein?“ (§201) (7)
Der
namhafte sowjetische Wissenschaftler B. Ja. Vladimircov würdigte die
künstlerische Leistung der „Geheimen Geschichte“ mit den Worten: „Wenn
man behaupten kann, dass im Mittelalter kein Volk das Interesse der
Historiker so stark auf sich gezogen hat wie die Mongolen, muss auch
darauf hingewiesen werden, dass kein anderes Nomadenvolk ein
literarisches Werk hinterlassen hat, das das wirkliche Leben so genau
wiedergibt wie die ‚Geheime Geschichte’.“ (8)
Es existieren noch zahlreiche andere Werke, die in derselben Traditionslinie liegen wie die „Geheime Geschichte“: Boγda baγatur bey-e-ber dayiluγsan teüke („Die persönlichen Feldzüge des heiligen Herrschers“), Quriyangγui altan tobči („Die kurze Goldene Chronik“, 1604-1627), Sira tuγuji („Die Gelbe Geschichte“, 1643-1662), Altan tobči („Die Goldene Chronik“, 1655) des Lubsangdanjan, Erdene-yin tobči („Die Juwelenchronik“, 1662) des Saγan sečen, Asaraγči neretü yin teüke
(„Die Geschichte eines Mannes mit Namen Asaraγči“, 1677) von Jamba,
Bolor erike („Die Gebetskette aus Bergkristall“, 1774-1775) von
Rasipunsoγ und andere. Der Differenzierungsprozess zwischen
Historiographie und Belletristik war zu jener Zeit noch nicht
abgeschlossen, so dass diese Geschichtswerke gleichzeitig
Literaturdenkmäler sind. Man trifft in ihnen nicht selten auf Passagen,
die künstlerisch gestaltet sind. In diesem Zusammenhang soll hier nur
auf die zahlreich verwendeten Legenden hingewiesen werden.
In einer
solchen durch die „Geheime Geschichte“ überlieferten Legende wird
berichtet, wie Alan-gua, die Urmutter Činggis qaγans, ihre Söhne
belehrt: „Während sie so dort wohnten, starb Dobun der Kluge. Nach
seinem Tode gebar Alan die Schöne, ohne einen Mann zu haben, drei
Söhne. Die waren genannt: Buchu chatagi, Buchatu Saldschi und
Bodontschar der Dumme. Die vorher noch von Dobun dem Klugen gezeugten
Söhne Belgunotai und Bugunotai aber sprachen miteinander hinter dem
Rücken ihrer Mutter: ‚Unsere Mutter hat hier, ohne Hausgenossen-
Brüder und ohne einen Mann zu haben, diese drei Söhne geboren. In der
Jurte war allein der Mann von den Ma’alich baya’ut. Von dem mögen die
drei Knaben wohl sein.’ Ihre Mutter hörte davon. Eines Tages im Herbst
kochte sie ein vorjähriges Lamm, aus dem Wintermonat, ließ ihre fünf
Söhne Belgunotai, Bugunotai, Buchu chatagi, Buchutu saldschi und
Bodontschar den Dummen der Reihe nach (zum Mahle) Platz nehmen und gab
ihnen je einen einzelnen Pfeil in die Hand mit den Worten: ‚Zerbrechet
ihn!’ Sie brachen die einzelnen Pfeile ohne weiteres durch und warfen
sie fort. Dann band sie fünf Pfeile zusammen und gab sie ihnen mit den
Worten: ‚Zerbrechet diese!’ Die Fünf nahmen die fünf gebündelten
Pfeile Mann für Mann, reihum, aber vermochten sie nicht zu zerbrechen.
Darauf sprach ihre Mutter Alan die Schöne: „... Ihr meine fünf Söhne
seid aus meinem einen Leibe geboren. Wenn ihr, wie eben die fünf
Pfeile, jeder für sich allein bleibt, werdet ihr wie jene einzelnen
Pfeile von jedem Beliebigen leicht zerbrochen werden. Wenn ihr aber wie
jenes Bündel Pfeile zusammen in Eintracht bleibt, was
könnte euch dann so leicht von irgend jemand geschehen?“ (§ 17-22) (9)
8 B. Ja. Vladimircov: Obščestvennyj stroj mongolov. Moskau 1931, S. 6.)
9 Übersetzung nach E. Haenisch: a. a. O., S. 2-3.
Dieser
Legende liegt der Gedanke zugrunde, dass die Menschen in Frieden
miteinander leben sollen, und sie wurde deshalb von der „Geheimen
Geschichte“ und auch später immer wieder aufgegriffen, um zu mahnen,
das durch Činggis qaγan geschaffene Reich nicht wieder zerfallen zu
lassen, sondern es zusammenzuhalten und zu stärken.
Eine analoge
Legende, vor mehr als zweitausend Jahren in Griechenland aufgezeichnet,
befindet sich unter den Fabeln des Äsop, der sie von einem Nomadenvolk
aus dem Norden, aus dem Sagenschatz der Skythen, übernommen haben
will. Dieselbe Legende fand Eingang in die Geschichte der von den
Tabgači gegründeten We-Dynastie, wobei vermerkt wird, sie sei von den
Tügükün (Aja), einem in Osttibet lebenden Stamm mongolischer
Herkunft, übernommen worden. Dieses Phänomen lässt sich auf zweierlei
Weise erklären: Einmal könnte das Sujet der Äsopschen Fabel Verbreitung
unter allen Nomadenvölkern Asiens gefunden haben und schließlich über
die Tügükün nach China gekommen sein. Diese Version wird von der
traditionellen europäischen Literaturforschung bis heute als ein Axiom
betrachtet. Wir schlagen als Antithese eine zweite Erklärung vor: Es
wäre durchaus möglich, dass die griechische Legende sich, wie die
meisten europäischen Wissenschaftler annehmen, über den ganzen
asiatischen Kontinent verbreitet hat. Diese Möglichkeit bestreiten wir
nicht. Deshalb aber muss diese Legende nicht unbedingt auch
griechischen Ursprungs sein. Sie kann bei anderen Völkerschaften
entstanden, in Griechenland aufgezeichnet und so in die Äsopschen
Fabeln gelangt sein. Man bedenke, dass im Griechischen eindeutig darauf
hingewiesen wird, dass es sich bei Äsop um die Adaption einer
skythischen Legende handelt. (10)
Aufzeichnung und
Entstehung eines literarischen Werkes sind nicht ein und dasselbe. Ich
neige zu der Annahme, dass es wohl ein Grieche gewesen sein mag, der
diese sehr früh bei den Skythen und zahlreichen anderen europäischen
und asiatischen Völkern verbreitete Legende zum ersten Mal
niederschrieb, dass sie sich aber gleichzeitig durch mündliche
Überlieferung weiterverbreitet hat, bis sie im 7. Jahrhundert von den
Tügükün aus den Weg in die Geschichte der We-Dynastie fand.
Wir
können die seit dem 18. und 19. Jahrhundert unter den Orientalisten
verbreitete Methode nicht voll und ganz akzeptieren, nach der die Sagen
und Legenden der vielen europäischen und asiatischen Völker unbedingt
mit den Literaturen einiger weniger Länder – nämlich Griechenlands,
Roms, Indiens, Chinas und anderer alter Kulturzentren – in Verbindung
gebracht werden. Bei der Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen
den Literaturen der sesshaften Völker Griechenlands, Roms, Indiens und
Chinas einerseits und den Literaturen der Nomadenvölker andererseits
müssen auch die Einflüsse berücksichtigt werden, die von den
letzteren
ausgingen
und auf die Literaturen der sesshaften Völker wirkten. Es darf auch
nicht übersehen werden, dass ähnliche sozial-ökonomische Bedingungen
durchaus Ähnlichkeiten im Legendenschatz der Völker verursachen
konnten. Jede einzelne Dichtung sollte für sich auf der Grundlage des
konkreten Faktenmaterials untersucht werden. Ohne sichere Fakten die
kulturellen Leistungen so vieler Völker auf einige wenige Kulturzentren
zurückführen zu wollen, scheint uns nicht der richtige Weg. Denn ob
groß oder klein – in Wirklichkeit haben alle Völker der Welt eine
eigene, ganz spezifische Kultur geschaffen, haben alle ihre eigenen,
ihre ganz spezifischen Leistungen in die Menschheitskultur eingebracht.
Eine andere bemerkenswerte Legende enthält das Altan tobči
des Lubsangdanjan, ein Geschichtswerk aus dem 17. Jahrhundert: Mengedei
sečen sprach zu Činggis qaγan: „In alter Zeit lebte eine Schlange mit
tausend Köpfen und einem einzigen Schwanz. Da jeder der vielen Köpfe in
eine andere Richtung zog, kam sie unter einen Wagen und wurde getötet.
Es lebte auch eine Schlage mit tausend Schwänzen und einem einzigen
Kopf. Die Schwänze folgten ihrem einzigen Kopf in ein Loch und kamen
nicht unter den Wagen. Genauso wollen wir deine tausend Schwänze sein,
dir unsere Kraft geben und dich stärken.“
Im Zusammenhang mit dieser
Legende schrieb im 13. Jahrhundert der iranische Historiker Juvaini,
Legenden dieser Art seien bei den Mongolen häufig. Sie sollten dazu
dienen, die Einheit des unter den Fürsten des „Goldenen Stammes“
Činggis qaγans aufgeteilten Weltreichs zu festigen. Zur Zeit des
Weltreichs und vor allem zur Zeit Mongke qaγans zeigten die Mongolen
eine große Vorliebe für solche Legenden und machten sie zu ihren
Leitsätzen. (11)
Auch im Altan tobči
des Lubsangdanjan belehrt Činggis qaγan seine Söhne: „Haltet die vielen
Völker zusammen! Ehe ihr ihre Körper sammelt, sammelt ihre Herzen!
Wohin können ihre Körper gehen, wenn ihr ihre Herzen gesammelt habt?“ (12) Er ermahnt sie also, die gewaltsam unterworfenen Völker mit Güte zu regieren, um ihre Zuneigung zu gewinnen.
Die
erwähnten Geschichtswerke enthalten noch zahlreiche andere Märchen und
Legenden, so die Legende vom Sieg über die dreihundert Tayičiγud, die
Legende von Arγasun qorči oder die Legende vom Waisenknaben. In
letzterer wird erzählt, wie Činggis qaγan bei einem Festgelage mit
seinen Fürsten das Für und Wider des Branntweintrinkens erörtert. Ein
Waisenknabe tritt hinzu, erhält vom qaγan
die Erlaubnis zu sprechen und erklärt mit weisen Worten und in
wohlgesetzten Reimen das Geheimnis des Branntweins, den zu trinken ein
Genuss nur dann sei, wenn man man es in Maßen tue. Damit erweist sich
der Knabe als den meisten der anwesenden Fürsten geistig überlegen
und wird für seine Klugheit von Činggis qaγan gelobt. Der arme
Waisenknabe, der Fürsten und berühmte Recken an geistigen und
körperlichen Kräften überbietet, ist für die Volksdichtung
11 Vgl. A. Juvaini: The History of the World-Conqueror. Translated by I. A. Boyle. Manchester 1958, S. 42.
12 Vgl. Lubsangdanjan: Altan tobči. Ulaanbaatar 1937, S. 46.
typisch, und im vorliegenden Falle könnte man deshalb vielleicht vom Einfluss einer demokratischen Tendenz sprechen.
1931
wurde in einem Grab an der Wolga ein in uigurischer Schrift auf
Birkenrinde geschriebenes Manuskript gefunden, das ursprünglich etwa
zwanzig Seiten umfasst hat. Der größte Teil war infolge der Verwesung
stark zerfallen, doch ist es Wissenschaftlern gelungen, wenigstens
einige Seiten zu rekonstruieren. Es handelt sich um ein mongolisches
Schriftdenkmal aus dem 13. Jahrhundert, ein Gedicht oder
ein Lied,
das die Sehnsucht eines jungen Mannes, der als Soldat in die Fremde
ziehen musste, nach seiner daheim gebliebenen Mutter zum Ausdruck
bringt. Dieser Soldat Činggis qaγans spürte nicht das geringste
Verlangen, zu kämpfen und fremde Länder zu erobern; er sang nur von
seiner Sehnsucht nach der Heimat und der geliebten Mutter. Dieses
Gedicht ist wohl das einzige uns aus dem 13. Jahrhundert überlieferte
Beispiel weltlicher Empfindungslyrik.
Ebenfalls aus dem 13./14.
Jahrhundert stammt die Geschichte von den beiden Grauschimmeln, ein
kleines aber vielbeachtetes Dichtwerk: Činggis qaγan besaß zwei
Grauschimmel, mit denen er auf die Jagd zog und reiche Beute machte. Er
vergaß jedoch, seinen beiden Reittieren Dank und Anerkennung zu sagen.
Gekränkt liefen die beiden fort in ein fremdes Land. Ihr Herr folgte
ihnen, konnte sie jedoch nicht einholen und kehrte traurig um. In der
Fremde verbrachten die beiden Grauen ein paar glückliche Jahre. Dann
aber fühlte der Ältere Sehnsucht nach der Heimat und nach ihrem Herrn,
dem qaγan. Er magerte
zusehends ab, während dem Jüngeren vor Wohlbeleibtheit das Fell zu
platzen drohte. Doch empfand das jüngere Pferd Mitleid mit dem
Gefährten und kehrte mit ihm in die Heimat zurück.
Manche
Wissenschaftler sind bis heute der Meinung, der mongolische
Schamanismus kenne keine schriftlich fixierte Literatur. Diese Annahme
ist falsch. Es gab sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche
mongolische Schamanendichtung. Letztere wird vor allem durch gereimte
Beschwörungen von Bergen und oboγa (13), des Himmels und der Geister repräsentiert. Bekannt sind das „Rauchopfer für den Ata tngri“,
das „Rauchopfer für den Weißen Alten“, die „Anbetung des Feuers“, das
„Rauchopfer für das Windpferd“, das „Rauchopfer für die
Sattelriemen“, die „Beschwörung des Maniqab tngri“, die „Sūtra der
Sieben Alten“, die „Beschwörung der Fünf Menschen-Sterne“, die
Anbetung der Berge und oboγa“,
die „Anrufung der Seele“, die „Anbetung des Banners des Činggis“, der
„Segen für den ersten Kumys“ und andere. Diese Dichtungen beruhen auf
einer uralten Tradition und sind ihrem Wesen nach rein mongolisch. Dies
mögen zwei Strophen aus der „Anbetung des Feuers“ veranschaulichen:
„Seit der Zeit, als der Qangγai-qan noch ein Hügel war,
Seit der Zeit, als die Meeres-Qatan noch ein Pfützchen war,
Seit der Zeit, als der scheckige Steinbock noch ein Kitzchen war,
Seit der Zeit, als der Habichtvogel noch ein Nestling war,
Seit der Zeit, als der Ulmenbaum noch ein Reislein war,
Tropfe ich Butterschmalz für dich, Mutter,
Die uns Wohlergehen schenkt.
Für den Hengst mit der üppigen Mähne,
Für die Stute mit dem prallen Euter rufe ich Glück herbei!
Für das Fohlen, das davongelaufene,
Für das Kalb, das ausgebrochene,
Für das Lamm, das verlaufene,
Für das Zicklein, das verirrte, rufe ich Glück herbei!
Qurai, qurai, qurai!“
13 oboγa (nach der kyrillischen Schreibweise „owoo“): Steinsetzungen, mit denen lokale Gottheiten geehrt werden.
Eine in ihrer Form der Schamanendichtung nahestehende literarische Gattung, die im Brauchtum des mongolischen Volkes wurzelt, sind die irügel (Segenssprüche). Sie werden bei allen wichtigen Ereignissen des täglichen Lebens vorgetragen: zur Begrüßung und zur Verabschiedung von Gästen, beim Darbieten von Branntwein und Kumys, zu Beginn der Stutenmelksaison, bei der Filzbereitung, beim Anbeten der Berge und oboγa bei Hochzeiten, bei der Namensweihe der Kinder, bei den jahreszeitlichen Festen oder wenn eine neue Jurte aufgestellt wird. Es gibt umfangreiche Sammlungen solcher Sprüche. Die professionellen irügel-Sprecher kennen Dutzende davon auswendig. Doch sie tragen sie nicht nur vor, sondern nehmen laufend Ergänzungen und Ausschmückungen vor und dichten zuweilen auch neue. Einer der kürzesten irügel heißt:
„Steige auf wie die Sonne,
Prange wie Blattwerk!“
Im Mongolischen sind es nur sechs Wörter. Die umfangreichsten irügel sind Dichtungenn mit mehreren Hundert Verszeilen.
Im 14. Jahrhundert, zur Zeit des mongolischen Weltreichs, verfasste Čos ki odser (tib. Chos kyi ’od zer) Hofgeistlicher des qaγan,
in mongolischer und tibetischer Sprache mehrere literarische Werke, von
denen einige erhalten geblieben sind. Sein Gedicht „Lob des Mahākāli“,
in mongolischer Sprache geschrieben, wurde in den Höhlen von Tunhuang
gefunden und wird heute in Berlin aufbewahrt. Sein in Tibetisch
verfasstes biographisches Werk „Die zwölf Werke Buddhas“ wurde von
Sirabsengge ins Mongolische übersetzt. Čos ki odser selbst übersetzte
u. a. die philosophische Lehrschrift „Bodhicaryāvatāra“ des indischen
Gelehrten Čantideva und ließ sie, mit einem Kommentar versehen,
drucken. Leider konnten davon kaum noch zehn Seiten aufgefunden werden.
Čos ki odsers Grammatik der mongolischen Sprache ist ein bedeutendes
Denkmal mongolischer Schriftkultur.
Ein umfangreiches und bei den
Mongolen weit verbreitetes Schriftwerk ist die Geser (tib. Ge
sar)-Sage. Bei ihrer Untersuchung gibt es noch viele ungeklärte Fragen.
Haben wir es hier mit einem Werk der Volksdichtung zu tun oder mit
Belletristik? Gehört die Geser-Sage zur Übersetzungsliteratur oder
wurde sie von vornherein in mongolischer Sprache niedergeschrieben?
Alle diese Fragen könnte man bejahen: Es wurden nicht nur zahlreiche
Handschriften und zuweilen auch Blockdrucke der Geser-Sage gefunden,
sondern sie fand auch in mündlichen Versionen überall bei den
Mongolen und besonders bei den Burjaten starke Verbreitung. Es gibt
eine im 17./18. Jahrhundert aus dem Tibetischen übersetzte mongolische
Geser-Sage und daneben zahlreiche Versionen, die auf
mongolischsprachigen Ursprung schließen lassen. Das heißt, es sind von
einem einzigen Werk auf Grund der starken Resonanz, die es unter der
Bevölkerung fand, viele Versionen entstanden, die in Inhalt und Form
stark von einander abweichen.
Im 11. Jahrhundert entstand in
Nordtibet bzw. in der Gegend von Amdo und dem Kokonor ein kleiner
Staat, der zahlreiche Stämme tibetischer, uigurischer und mongolischer
Herkunft vereinte. Chinesischen Quellen zufolge hieß der erste
Herrscher dieses Reichs Sydotu, sein Nachfolger Gosylo. Dieser Sydotu
war unseres Erachtens niemand anders als Gesers Oheim Totun (Čoton;
tib. Khro thung), Gosylo aber war Geser selbst. Eine in kunstvollen
Reimen verfasste Biographie jenes Gosylo-Geser hinterließ in
tibetischer Sprache der Dichter Čoyibeb (tib. Chos ’bebs). Diese
Dichtung fand allem Anschein nach seit dem 15./16. Jahrhundert in
mündlicher und in schriftlicher Form Verbreitung unter den Mongolen.
1716 wurden die ersten sieben Kapitel einer mongolischen Geser-Version
im Blockdruckverfahren publiziert.
Zum Inhalt: Als auf der Erde
unruhige Zeiten angebrochen waren, als die Starken die Schwachen
peinigten und die Hohen die Niederen unterdrückten, sandte Qormusta,
der Herrscher des Himmels, seinen jüngsten Sohn herab, damit dieser
Ungerechtigkeit und Zwietracht beheben sollte. Er wurde im Lande Lin
geboren, wurde Geser qaγan, der Čoton und dessen Fürsten besiegte und
sein eigenes Reich gründete. Alsdann kämpfte Geser gegen das Ungeheuer
Mangus, das von Norden her eingefallen war, besiegte es und zog in
dessen Land. Dort nahm er die Fürstin Tümenjirγalang zur Frau und
blieb drei Jahre bei ihr. Währenddessen waren die drei
Sirayiγool-Könige in Gesers Land eingefallen, um die Königin Rogmo-γoa
(tib. ’Brug mo) zu rauben. Gesers 33 Recken, die den Kampf gegen die
Eindringlinge aufgenommen hatten, waren gefallen, Gesers Oheim auf die
Seite der Sirayigool- Könige übergelaufen, die nun über das Land Lin
herrschten. Der Sirayiγool-König Čaγan gertü gab Rogmo-γoa seinem Sohn
Altangerel zur Frau.
Geser qaγan kehrte nach drei Jahren in sein
Land zurück, besiegte die drei Sirayigool- Könige, eroberte Rogmo-γoa
zurück und verurteilte Čoton vor den Augen seines Volkes. Seine 33
Recken aber rief er mit ein paar Tropfen vom Wasser des Lebens ins
Leben zurück.
Als Gesers Bruder Času siker (tib. RGua tso zhal
dkar) den Fürsten Čoton töten wollte, gebot ihm Geser Einhalt und
sprach: „Töte ihn nicht! Mag er am Leben bleiben! So werden wir,
solange er lebt, immer daran denken, dass wir Feinde haben, die uns
Böses wollen.“
Die Geser-Sage existiert nicht nur in tibetischer,
mongolischer, burjatischer und kalmückischer Sprache, sondern auch in
den Sprachen einiger Turkvölker. Mit Recht bezeichnet der Franzose
Silvain Levy die Geser-Sage als die Iliade Zentralasiens. (14)
Vielfach wird die Meinung vertreten, dass Werke alter indischer Dichtkunst wie das Pañcatantra, das Ramayana, die Geschichte von Vicramacarita, das Märchen von den 32 hölzernen Männern, das Vetala (mong. Siditü kegür-ün uliger: „Märchen vom Zaubertoten“), das Damamuka (mong. Uliger-ün dalai: „Meer der Märchen“) (15) oder die Buddha-Legenden (mong. Čadig)
über das Tibetische Eingang in die mongolische Literatur gefunden
haben. Das entspricht im großen und ganzen auch den Tatsachen, manchmal
aber nur teilweise. Fest steht z.B., dass das Damamuka und die Čadig
als buddhistische Dichtungen aus dem Sanskrit ins Tibetische und aus
dem Tibetischen ins Mongolische übersetzt und vervielfältigt worden
sind und dass sie sich in diesem Prozess kaum verändert haben. Bei den
weltlichen Märchen und Legenden jedoch weichen die tibetisch- und die
mongolischsprachigen Versionen oft stark vom Original ab. Darüber
hinaus haben tibetische und mongolische Dichter dem indischen Werk
oftmals ganze Abschnitte eigenschöpferisch hinzugefügt. In manchen
Fällen erinnern nur noch der Titel und die äußere Form an das indische
Original, während es sich dem Inhalt nach um ein völlig anderes Werk
handelt. Unter diesem Aspekt sollen die „Märchen vom Zaubertoten“ (Vetala) näher betrachtet werden.
Im Sanskrit gibt es zwei Versionen eines Buches mit dem Titel Vetalapañcavimśati. Beide wurden ins Russische, ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzt. Im
Tibetischen gibt es zwei Versionen der Vetala-Märchen
(Ro dngos grub can), von denen die eine dreizehn, die andere zwölf
Kapitel umfasst. Die in diesen beiden Büchern enthaltenen Märchen sind
in einer Art und Weise miteinander verknüpft, die an die indischen Vetala-Märchen erinnert. Inhaltlich jedoch stimmen sie mit diesen keineswegs überein. Darum sollte man die tibetischen Vetala-Märchen
nicht als Übersetzung eines indischen Originals betrachten, sondern als
echt tibetische Literatur. Die beiden tibetischen Versionen werden im Bucoi (tib. Bu chos, mong. Köbegün nom),
einem im 11. Jahrhundert in Tibet verfassten Werk, erwähnt, was zu der
Annahme berechtigt, dass sie bereits im 11. Jahrhundert in tibetischer
Sprache existiert haben müssen. Das 21 Kapitel umfassende tibetische Vetala
liegt in mongolischer Übersetzung vor, die 13 Kapitel umfassende
Version sogar in sechs oder sieben verschiedenen Übersetzungen. Die
Häufgigkeit gerade dieser Version in tibetisch wie auch in mongolisch
spricht dafür, dass es sich um ein vielgelesenes Buch gehandelt hat.
Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Mongolen den 13 Kapiteln des Vetala weitere 13 hinzufügten, so dass dieses Buch nunmehr 26 Kapitel umfasste.
14 Vgl. Sylvain Levi, Vorwort zu Alexandra David-Neel et le lama Jongden. La vie surhumaine de Guésar de Ling, Paris 1931, S. VII.
15 In deutscher Sprache erschienen unter dem Titel „Der Weise und der Tor“.
Später
wurden noch einmal neun Kapitel hinzugefügt, so dass außer den
mongolischen „Märchen vom Zaubertoten“ in 21 Kapiteln auch Versionen
mit 13, 26 bzw. 35 Kapiteln Verbreitung fanden. Ein großer Teil dieser
„Märchen vom Zaubertoten“, mit Sicherheit aber die Ergänzungen, dürfen
mongolischen Autoren zugeschrieben werden.
Diese Ergänzungen enthalten zahlreiche Märchen und Geschichten, die weder in den indischen noch in den tibetischen Vetala-Märchen
vorkommen bzw. diesen Literaturen überhaupt fremd sind. Das führte zu
der Überzeugung, dass die traditionelle Hypothese, nach der das
tibetische Vetala eine
Übersetzung aus dem Indischen und die mongolischen Versionen in vollem
Umfang Übersetzungen aus dem Tibetischen seien, unbegründet ist, und
dem mongolischen „Zaubertoten“ wurde der ihm gebührende Platz in der
Geschichte der mongolischen Literatur eingeräumt.
Aufgrund ähnlicher Hypothesen werden auch die „Beschreibung der Taten des Biγarmijid qaγan“ (mong. Biγarmijid qaγan-u namtar)
– ein abenteuerlicher Liebesroman – und die Trilogie „Märchen von den
32 hölzernen Männern“, die „Geschichte von Arji borji qaγan“ (mong. Arji borji qaγan-u tuγuji) und die „Taten des Kesene qaγan“ (mong. Kesene qaγan-u namtar)
auf indischen Ursprung zurückgeführt, obwohl in Indien bis heute kein
äquivalentes Werk gefunden wurde. Ähnliche Werke sind auch in der
tibetischen Literatur unbekannt, bzw. die existierenden sind erst aus
dem Mongolischen übersetzt worden.
In diesen Dichtungen trifft man
häufig auf indische Namen: Arji borji (Raja booja), Biγarmijid
(Vicramaditi oder Vicramacarita), Kesene (Krišna), Maqasamadi
(Mahasammata), Urvaši dakini, die Stadt Vaysili u.a. Ebenso erinnern
manche Begebenheiten und die Art der Verknüpfung der einzelnen Märchen
an indische Literatur. Genauere Nachforschungen ergaben, dass von
diesen drei Werken einzig die „Taten des Kesene qaγan“ im 17. oder 18.
Jahrhundert zweimal aus einer indischen Sprache ins Mongolische
übersetzt wurden und in dieser Form allgemeine Verbreitung gefunden
haben. Bei den „Taten des Biγarmijid qaγan“ und der „Geschichte von
Arji borji qaγan“ sind jedoch keine Fakten bekannt, die als Beweis
dafür dienen könnten, dass es sich um Übersetzungen handelt. Hingegen
sind diese Dichtungen reich an Schilderungen des mongolischen Milieus,
so dass es scheint, als
wären sie in der Mongolei und von
mongolischen Autoren geschaffen. In der „Geschichte von Arji borji
qaγan“ bzw. im Kapitel XIII der mongolischen „Märchen von den 32
hölzernen Männern“ wird z.B. erzählt, wie zwei Knaben mit dem tebeg (16) spielen und dieser durch das Rauchloch einer Jurte der Fürstin auf den Kopf
fällt. In dem Kapitel, in dem Biγarmijid qaγan die Naran dakini zur
Gemahlin nimmt, heißt es, dass er „Edelsteine darbrachte und sie
aufhäufte, so hoch wie eine mongolische Jurte“. Außerdem wird im
Kapitel XIX der „Taten des Biγarmijid qaγan“ mehrmals die tibetische
Sūtra „Ma ņi bka ’bum“ aus dem 15. Jahrhunderterwähnt, und in Kapitel XXXII ist die Rede von dem Tibeter Jongqaba (tib. Tzong kha ba, 1357-1419).
16 tebeg: mongolisches Spielzeug aus einem beschwerten Fellstückchen oder Haarbüschel, in der Art eines Federballs, das mit den Füßen in die Luft geschlagen wird.
Wenn es sich um Übersetzungen aus dem Indischen ins Mongolische handeln würde, gäbe es keinen Grund, das „Ma ni bka’ ’bum“ und Jongqaba zu erwähnen. Im gleichen Kapitel wird erzählt, wie Buddha Śākyamuni auf einem Schimmel und der Bodhisattva Maitreya auf einem Rappen durchs Land ziehen. Sie werden ganz wie mongolische Hirten dargestellt, die zu ihrem Vergnügen von Jurte zu Jurte reiten und reihum die Nachbarn besuchen. Kapitel XXVIII erzählt von einem Einsiedler in den Bergen, der den Boten des qaγan mit Kumys aus einem kleinen Ledersack bewirtet – ebenfalls ein typisches Bild aus dem mongolischen Landleben.
König
Manibadra nahm die Manuhari zur Frau und lebte glücklich mit ihr, bis
Feinde das Land überfielen und Manibadra gegen sie in den Kampf ziehen
musste. Aus Eifersucht planten währenddessen die anderen Frauen des
Königs, Manuhari zu töten. Deshalb holte Manuhari von ihrer
Schwiegermutter ihr Schwanenkleid und flog damit in den Himmel. Im
folgenden wird beschrieben, wie Manibadra nach seinem Sieg über die
Feinde zurückkehrte und welche Schwierigkeiten er auf sich nehmen
musste, um seine Frau wiederzugewinnen.
Diese Jataka wurde aus
dem Sanskrit ins Tibetische übertragen, in die Sammlungen Kanjur und
Danjur aufgenommen und schließlich ins Mongolische übersetzt. Aus dem
Kanjur und dem Danjur führte der Weg dieser künstlerisch
anspruchsvollen Erzählung zu einer erneuten Ausgabe als selbstständiges
kleines Buch. Sie fand unter der Bevölkerung starke Verbreitung und
verwandelte sich in Volksdichtung. Solange diese Jataka ein Werk der
Belletristik darstellte, hielt sie sich stark an das Original und
veränderte sich kaum. Stärkere Veränderungen erfuhr sie erst nach ihrer
Umwandlung in Volksdichtung. Manchen Märchenerzählern gefiel es z.B.
nicht, dass der junge Jäger Junggeselle blieb. Sie erfanden eine Nixe
und ließen diese seine Frau werden. Zuweilen verschmolz der junge Jäger
auch mit Manibadra zu ein und derselben Gestalt. Und zuweilen wird
sogar geschildert, wie der junge Jäger den grausamen König im Kampf
besiegt, Manuhari für sich gewinnt und schließlich selbst den Thron
besteigt. Diese Erzählung bietet außerordentlich interessanten Stoff
für eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Belletristik und
Volksdichtung, für die Untersuchung von Assimilationsprozessen bei
Übersetzungsliteratur und andere Phänomene.
Zu jener Zeit gab es in
der Mongolei zwar eine Tradition der didaktischen Spruchdichtung und
der Historiographie, kaum aber der Prosadichtung, der Erzählung und des
Romans. Deshalb übte sich, wer schriftstellerisches Talent verspürte,
zunächst an Übersetzungen und indem er an seiner Übersetzung mehr oder
weniger auffällige Veränderungen vornahm. Das ist der Grund dafür,
dass wir der Übersetzungsliteratur und der wie Übersetzungsliteratur
erscheinenden Literatur so große Aufmerksamkeit widmen.
In diesem
Zusammenhang sei erwähnt, dass die Mongolen schon seit vielen
Jahrhunderten umfangreiche Mittel und Kräfte für die Übersetzung
fremdsprachiger Literatur ins Mongolische aufgebracht haben. In den
Höhlen von Tunhuang wurden in einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden
mongolischen Übersetzung Teile eines Romans gefunden, der die Reise
Alexanders von Macedonien ins nördliche Land der Finsternis beschreibt.
Kürzlich erst wurden mehrere Kurzfassungen des berühmten indischen
„Ramayana“ veröffentlicht,(20) von denen in mongolischer
Sprache vier und in tibetischer Sprache drei aufgefunden wurden. Das
spricht dafür, dass die Mongolen bereits vor vielen Jahrhunderten eine
beträchtliche Anzahl von klassischen Werken der Weltliteratur kannten
und lasen.
Relativ
zahlreich sind die in tibetischer wie auch in mongolischer Sprache
vorliegenden Höllenfahrtsgeschichten, die ein besonderes Genre der
tibeto-mongolischen Literatur darstellen. Die beiden berühmtesten sind
die „Geschichte der Čoyijid dagini“ (Čoyijid dagini-yin tuγuji) und die „Sūtra von Molon toyin“ (Molon toyin-u sudur; sanskr. Maudgalyayana sūtra).
Čoyijid
dagini war vor der ihr zugemessenen Zeit aus dem Leben geschieden.
Nachdem ihre Seele in die Hölle gewandert und dort Augenzeuge des
Gerichts Erlig qaγans, des Höllenfürsten, geworden war, kehrte sie auf
die Erde und in ihre sterbliche Hülle zurück, um zu berichten und
aufschreiben zu lassen, was sie in der Hölle gesehen und erlebt hatte.
Das Gericht des Erlig qaγan dient der Illustration der buddhistischen
Lehre, dass diejenigen Menschen, die ein tugendhaftes Leben geführt
haben, eine glückliche Wiedergeburt erfahren, während sündige
Menschen in ihrem späteren Leben eine minderwertige Existenz erlangen
und leiden müssen. Weder der Autor noch die genaue Entstehungszeit
dieser Erzählung sind bekannt, wohl aber, dass sie 1534 in tibetischer
Sprache als Blockdruck herausgegeben wurde. Von diesem Blockdruck gibt
es mehrere mongolische Übersetzungen, von denen einige Änderungen und
Ergänzungen enthalten. Auffällig ist dabei u.a. die Änderung der
Bezeichnung „sündiger Gelung“ (Mönch) in sündiger Gesgüi“ (Aufseher
bei Gebetsveranstaltungen). Indem also ein höherer Lamarang
angesprochen wurde, bekam die Erzählung so etwas wie eine
sozialkritische Tendenz. Ebenso wurden Episoden eingefügt, in denen
Erlig qaγan hohe Lamas und Fürsten für ihre Sünden hart bestraft.
Die
„Sūtra von Molon toyin“ wurde ursprünglich in Indien in Sanskrit
verfasst. Sie berichtet, wie der Mönch Molon toyin die von seiner
Mutter empfangene Liebe dadurch vergilt, dass er sie, als sie ihrer
Sünden wegen in die Hölle geraten war,
von dort errettet und ihr zu
einer Wiedergeburt im Himmel verhilft. Diese Erzählung wurde bereits im
3. Jahrhundert ins Chinesische übersetzt. Dort fand sie rasche
Verbreitung, da die Idee von der Vergeltung der Mutterliebe auch der
konfuzianischen Lehre entspricht. Molon toyin genoss in China große
Autorität. Ins Tibetische übersetzt, fand die gleiche Erzählung in
Tibet keine so starke Resonanz und wurde auch nicht in die Sammlungen
Kanjur und Danjur aufgenommen. Dennoch gibt es in mongolischer Sprache
vier verschiedene Übersetzungen, ja selbst einen ganz und gar
mongolisierten, wenn nicht sogar in mongolischer Sprache vefassten „Molon toyin“.
Die Bedeutung dieses Buches beruht nicht zuletzt auf der Vielzahl
prächtiger Illustrationen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass auch
die „Sūtra von Molon toyin“ zur Entstehung einer ganzen Reihe von
Erzählungen und Legenden führte, die mündlich weitergetragen wurden.
Die
alte mongolische Literatur hat, wie erwähnt, nur wenige eigene
Prosawerke hervorgebracht. Eins davon ist die 1662 entstandene
„Geschichte vom Endegürel qaγan“ (Endegürel qaγan-u tuγuji), die auf einem uralten Motiv der Volksdichtung, dem Konflikt zwischen Waisenkind und Stiefmutter, aufbaut.
Erzählungen, in deren Mittelpunkt eine Frau steht, kommen in der alten mongolischen
Literatur öfter vor. Zwei davon sind die „Geschichte von der Weißen Tara-Mutter“ (Čaγan dara eke-yin tuγuji) und die „Geschichte von Naran-u gerel“ (Naran-u gerel-ün tuγuji).
Entstehungszeit und Autoren dieser beiden Erzählungen sind unbekannt.
Vermutlich stammen sie aus dem 16./17. Jahrhundert. Eine Druckausgabe
liegt von keiner der beiden vor, doch waren beide als Handschriften
weit verbreitet. Die „Geschichte von der Weißen Tara-Mutter“ ist auch
unter anderen Titeln, z.B. als „Geschichte von der Frau Baγmai“ (Baγmai qatun-u tuγuji),
bekannt. Die eigentliche, ungeschminkte Fabel berichtet von einer
jungen Nonne, die im Kloster Dungjonkarbo (tib. Dung skyon dkar po)
einen Sohn zur Welt brachte. Um den guten Ruf des Klosters zu wahren,
nahmen die anderen Nonnen der Mutter das Kind fort und übergaben es
heimlich einem Fremden zur Adoption. Nach jahrelangem Suchen fand die
Mutter endlich ihr Kind wieder und blieb bei ihm. Diese schlichte,
lebensnahe Fabel wird jedoch in phantastischer Weise aufgebauscht. So
ist es z. B. Buddha höchstpersönlich, der das Kind entführt.
Absichtlich lässt er die Mutter von einer Stätte des Leids zur anderen
irren, damit sie die leidenden Wesen von ihren Qualen erlösen könne.
Im
Mittelpunkt der „Geschichte von Naran-u gerel“ stehen die Erlebnisse
eines einfachen jungen Paares. Doch auch hier werden so ungewöhnliche
Ereignisse geschildert, dass man nicht mehr von „typischen“ Gestalten
sprechen kann: Der Mann studiert die Wissenschaften und wird Beamter
des qaγan, während die Frau
die Kriegskunst erlernt, General wird und große Verdienste erwirbt,
indem sie die Feinde schlägt, die das Land überfallen haben.
Diese
beiden Erzählungen sind insofern interessant, als sie Kraft und
Kühnheit der Frau preisen und Frauen als den Männern überlegen
darstellen. Früher war es üblich, dass Frauen bei Weihrauch und
brennenden Butterlämpchen zu einer Art Andacht zusammenkamen und sich
diese Geschichten von einem Schriftkundigen vorlesen ließen, obwohl sie
im Grunde kaum buddhistisches Gedankengut enthalten.
Im 15.
Jahrhundert, als es darum ging, die auseinanderfallenden mongolischen
Völkerschaften wieder zu einem einheitlichen Staat zusammenzuschließen,
lebte die Fürstin Manduqai (Mandchai), eine heldenhafte Frau von
großem politischem Einfluss, deren persönliches Schicksal die Mongolen
noch heute bewegt. Bevor sie die Regentschaft übernahm, leistete sie
vor dem Palast des Groß-qaγan
einen Schwur, der in alliterierenden Versen überliefert ist. Diese
bemerkenswerte Dichtung soll nicht unerwähnt bleiben, wenn hier von den
Heldinnen der mongolischen Literatur die Rede ist. Seit dem 16.
Jahrhundert erfuhr die Gelbe Religion oder der Lamaismus als tibetisch-
mongolische Richtung des Buddhismus unter den Mongolen eine starke
Verbreitung. Allerorts wurden Klöster gebaut, in denen eine bedeutende
Anzahl von Lamas lebte. Relativ viele Klöster nahmen den Charakter
theologischer Hochschulen an. Hier wurden wissenschaftliche Forschungen
auf den Gebieten der tibetischen Sprache und des Sanskrit, der
Philosophie, Medizin, Astrologie usw. betrieben.
Wenn anfangs noch
umfangreiche Übersetzungen tibetischsprachiger Sutren angefertigt
wurden, benutzten die Klosterwissenschaftler später zum größten Teil
die tibetischen Originale für ihre Studien. Das Tibetische wurde in
der Mongolei zur Sprache der Wissenschaft und – teilweise – zur Sprache
der Literatur. Manche Autoren verfassten nun ihre literarischen
Arbeiten in Tibetisch, manche bedienten sich
beider Sprachen: des
Tibetischen und des Mongolischen. Mehr als zweihundert solcher Autoren
sammelten ihre Werke und ließen sie als so genannte „Sümbüm“
(Gesammelte Werke; tib. gSungs ’bum) drucken. In den „Sümbüm“ der
Klostergelehrten überwogen verständlicherweise religiöse Traktate zu
den Ordensregeln, Kommentare zu Werken der buddhistischen Philosophie
und ähnliches Genres. Aber sie enthalten auch eine ganze Anzahl
religiöser und weltlicher Moralsprüche, theoretische Abhandlungen
über die Dichtkunst, meisterhaft erzählte Heiligenviten, Historien und
Legenden, Literaturregister und literaturkritische Abhandlungen.
Deshalb wird die tibetischsprachige Literatur mongolischer Autoren als
ein besonderes Kapitel in der Geschichte der mongolischen Literatur
betrachtet. Etwa seit dem 18. Jahrhundert zeichnen sich in der
tibetischsprachigen mongolischen Literatur drei progressive Strömungen
ab, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts zusehends erstarkten. Die erste
zeichnete sich durch ein kritisches Herangehen an religiöse Dogmen aus,
die zweite durch Kritik an der Obrigkeit und die dritte durch ein
wachsendes Interesse für säkulare Dichtung.
Ein bedeutender
Vertreter der ersteren war der Sumba qambo Yisibaljor (tib.: Sum pa
mkhan po Ye shes spal ’byor, 1704 - 1788) vom Köke naγur (Kukunor).
Seine „Geschichte der Verbreitung der Religion in Indien, Tibet und der
Mongolei“ sowie seine Autobiographie und andere Werke enthalten nicht
wenige literarische Einlagen und kritische Elemente. Von seinen
zahlreichen Gedichten sollen hier nur einige Verszeilen übersetzt
werden:
„Anders ist das Tun des Weisen,
anders das des Toren wieder.
Auf dem See lässt sich die Wildgans,
auf dem Aas der Geier nieder.
Wissen ist es, was der Kluge schätzt,
eitler Glanz, was einen Hohlkopf blendet.
Himmelswasser ist’s, wonach der Kuckuck sucht,
der Suhle Schlamm, wonach das Schwein sich wendet.
Den Klugen kann kein Unheil je erschrecken,
den Tölpel sucht auf Schritt und Tritt es heim.
Den Berg beschmutzt kein Staub, den schneebedeckten,
doch schwarze Kohle wäscht kein Wasser rein.“(21)
Ein
bedeutender Vertreter der weltlich orientierten Literatur war
Lubsangčultim (1740 – 1810), bekannt als Čaqar gebsi. Er verfasste
seine Werke sowohl in mongolischer als auch in tibetischer Sprache.
Sein „Kommentar zum Subhāsidaratnanidhi, genannt ‚Schlüssel aus
Wunschedelstein’“ (Subhasidi-yin tayilburi čindamani- yin tülkigür)
enthält fast fünfzig Volksmärchen und Geschichten, und sein „Kommentar
zu ‚Ein Tropfen vom Heilquell, der die Araten speist’“ (Arad-i tejigeküi rasiyan-u dusul neretü šastir-un tayilburi čindamani-yin čimeg)
enthält mehr als zehn Erzählungen aus dem indischen Pañcatantra.
Darüber hinaus gibt es eine ganze Anzahl hübscher Geschichten, die
von ihm persönlich stammen, wie z. B. die „Legende von der Dejid“ oder
die „Erzählung von den sieben jungen Mädchen“.
Weltliche Dichtungen
entstammen auch der Feder des Agwangdampil (tib. Ngag dbang dam phel,
1700 – 1780) und des Nomt-un Rinčin (1821 – 1907), deren Kommentare zu
dem „Tropfen vom Heilquell“ ebenfalls Geschichten aus dem Pañcatantra
enthalten.
Die Anzahl der mongolischen Schriftsteller, die ihrer
Gesellschaft gegenüber eine kritische Haltung einnahmen, wuchs im 19.
Jahrhundert erheblich. Unter ihnen ist vor allem der als „Noyan
qutugtu“ berühmte Rabjai (tib. Rab rgyas, 1803 – 1856) zu erwähnen.
Außerordentliche Begabung und Fleiß ebneten dem Sohn einer armen
Familie den Weg zu einer höheren Bildung und ließen ihn bis in den Rang
eines qutugtu aufsteigen. Der
Gesellschaft gegenüber verhielt sich Rabjai kritisch und bekannte dies
mit den Worten „Meine aufrichtigen Gefühle vertragen sich nicht mit
der Welt.“ Rabjais Verdienst ist es, mit zahlreichen lyrischen
Gedichten die mongolische Literatur um ein neues Genre bereichert und
sie dadurch in ihrer Entwicklung einen Schritt vorwärts gebracht zu
haben. Viele seiner Gedichte vertonte er selbst und verhalf ihnen als
Lied zu beachtlicher Popularität. Sein Lied „Vollkommenheit“ (Ülemji-yin cinar),
das die Schönheit einer Frau mit allen fünf Sinnen nachempfinden
lässt, wurde zu einem Volkslied, das noch heute gesungen wird:
Vollkommenheit
Erste Strophe – was das Auge erblickt:
Makellos in seinem Glanz,
Wie ein blanker, lichter Spiegel,
Leuchtet dein liebes Gesicht.
Leuchtet so schön und vollkommen,
Wahrlich, es raubt mir die Sinne.
Zweite Strophe – was das Ohr vernimmt:
So wie des Kuckucks Rufen
Raue Herzen berührt,
Wärmt mich die Anmut deiner Worte,
Wenn wir plaudernd beieinander sitzen,
Oh, mein holdes Kind!
Dritte Strophe – was die Nase verspürt:
Wenn du nahst, dann weht es mir
Taufrisch entgegen,
Wie der Duft vom rotem Sandelbaum,
Als wärst du geboren aus den gleichen Wurzeln.
Dieser Duft lässt mir das Herz erbeben.
Vierte Strophe – was die Zunge schmeckt:
Mir ist, als wenn ich Honig esse,
Der aus der Mitte einer Lotusblüte quillt.
Ich kann an deiner fröhlichen Natur
Mich nicht genug ergötzen.
Nur größer wird die Lust.
Fünfte Strophe – was der Leib empfindet:
Was ich in diesem Menschenleben
Ersehnte, habe ich erreicht.
Lass uns nun gemeinsam glücklich sein,
Lass uns im bodenlosen Meer des Glücks,
Das den Göttern vorbehalten, schwimmen.(22)
Rabjai baute in der Gobi bei Qamar-un keyid ein Theater. Dort ließ er viele Jahre hindurch sein Singspiel „Der Mondkuckuck“ (Saran köküge)
aufführen. Als Vorlage dazu hatte ihm eine tibetische Erzählung
gedient, doch zahlreiche Lieder, Melodien und Gedichte stammen von ihm
persönlich, wie er auch die Inszenierung selbst vornahm. Dass er auch
Frauen auf der Bühne auftreten ließ, war ein Novum für das gesamte
fernöstliche Theater.
Im 19. Jahrhundert wirkte Qayidub qambo (tib.
mkhas grub mkhan po, 1779 – 1838), dessen literarische Arbeiten in
fünf Bänden herausgegeben wurden. Sein Werk zeichnet sich durch einen
hohen Anteil an Prosadichtung und eine deutliche sozialkritische
Tendenz aus. Seine „Legende von einem alten Mann und einer alten Frau, die einen Tiger erschreckten“ kommentiert ein mündlich tradiertes Volksmärchen.
21 Aus dem Mongolischen von R. Bauwe.
22 Aus dem Mongolischen von R. Bauwe
Seit
dem 18./19. Jahrhundert wurden auch chinesische Romane in größerer Zahl
ins Mongolische übersetzt. Sie gelangten überwiegend als
Handschriften in Umlauf. Nicht selten geschah es, dass mongolische
Märchenerzähler sie auswendig lernten und zu den Klängen der
Pferdegeige vortrugen. So entstand das so genannte „Bensen-Märchen“
(von chin. „Pen tzu“ – Heft, Buch). als ein neues Genre der
Volksdichtung.
Die einzigen mongolischen Romane des 19. Jahrhunderts
stammen von Injinasi (tib. Injna shes, 1837 – 1892). Neben seiner
„Blauen Sutra“ (Köke sudur),
einem historischen Roman über die Zeit Cinggis qaγans, und dem
„Einstöckigen Pavillon“, einem Sittenroman, verfasste er Dutzende
Gedichte und Erzählungen. Zwar wurden diese Werke nicht mehr zu seinen
Lebzeiten gedruckt, sie fanden jedoch als Handschriften weite
Verbreitung. Erst nach 1930 erschien einiges davon in gedruckten
Ausgaben. Der dreibändige Roman „Die blaue Sutra“, an dem Injinasi
dreißig Jahre seines Lebens gearbeitet hatte, gehört zu den größten
Leistungen der mongolischen Literatur. Er umfasst 69 Kapitel, von denen
60 dem Leben Cinggis qaγans gewidmet sind. Dabei ist der von Injinasi
entworfene Cinggis keineswegs mit seinem historischen Vorbild
identisch, sondern ein Wunder-qaγan,
eine der Phantasie des Autors entsprungene Traumfigur. Injinasi schuf
diese Gestalt eines idealen Herrschers und gerechten Fürsten als
Alternative zu den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit.
Interessant ist, dass in dem Roman in keiner Weise auf die
Eroberungszüge Cinggis qaγans eingegangen wird.
Der Sittenroman
„Der einstöckige Pavillon“ prangert die Leibeigenschaftsverhältnisse
an. Hierbei lässt der Autor eine ganze Reihe authentischer
Persönlichkeiten seiner Zeit auftreten. Um sich vor Angriffen aus
dieser Richtung zu schützen, sah er sich zu der Erklärung veranlasst,
dass der Roman von einem anderen Autor stamme und er ihn aus dem
Chinesischen übersetzt habe.
Ins 19. Jahrhundert fallen auch Leben
und Schaffen des Gendün meyiren. Von ihm sind nur zwei kleine
Geschichten überliefert, und es ist durchaus möglich, dass sein
literarisches Werk nicht umfangreicher war. Dennoch ist Gendün meyiren
von Interesse – schon deshalb, weil er sich mit Prosadichtung befasste,
als die epische Gattung in der mongolischen Literatur noch spärlich
vertreten war. In seinem „Märchen vom Hündchen, von der Katze und der
Maus“ geht es im Grunde um das schwere Leben der mongolischen
Landarmut. Die andere Geschichte, das „Märchen vom Kulan und dem Wolf“,
war für Kinder gedacht. Beide Märchen verbreiteten sich als
Handschriften, bis sie unter der Volksregierung auch in gedruckter Form
die Öffentlichkeit erreichten.
Die Bedingungen des
Nomadenlebens, die letzten Endes auch das Schreiben und Aufbewahren von
Literatur erschwerten, die extremen klimatischen Verhältnisse, die
äußeren und inneren kriegerischen Auseinandersetzungen der Cingisiden,
die lange Jahre dauernde innere Krise während der Herrschaft der
„kleinen“ qaγane und andere
widrige Umstände bewirkten, dass die Bevölkerungszahl der Mongolen
gering blieb. Deshalb erfüllt es uns mit Stolz, wenn wir feststellen,
welch große Mengen von Büchern und Schriften diese wenigen Mongolen
aus anderen Sprachen übersetzt und der mongolischen Bevölkerung
zugänglich gemacht haben. Es wurden sogar ein 108-bändiges Kanjur und
ein 226-bändiges Danjur als Blockdruck in mongolischer Sprache
herausgegeben. Und obwohl es bis ins 20. Jahrhundert hinein kein
ziviles Schulsystem gab, geriet das nationale Schrifttum nicht in
Vergessenheit, sondern wurde über all die Jahrhunderte gepflegt. Es
entstanden nicht wenige Werke der Belletristik und der Historiographie,
die sorgfältig aufbewahrt wurden. Viele Klöster besaßen Bibliotheken
mit umfangreichen Beständen in mongolischer und tibetischer Sprache.
Die
Geschichte der mongolischen Literatur wird seit dem 19. Jahrhundert von
ausländischen und seit nunmehr fast 60 Jahren auch von mongolischen
Sprach- und Literaturwissenschaftlern untersucht. Dennoch ist es noch
nicht gelungen, alle Forschungsergebnisse zu einer mongolischen
Literaturgeschichte zusammenzuführen. Inzwischen haben mongolische
Wissenschaftler diese Arbeit in Angriff genommen. Gegenwärtig werden
eine Anthologie und ein dreibändiger Abriss der Geschichte der
mongolischen Literatur für den Druck vorbereitet. Auf dieser Grundlage
sind weiterführende detaillierte Untersuchungen und schließlich die
Herausgabe einer Geschichte der alten mongolischen Literatur vorgesehen.
Berlin, im März 1979
(Aus dem Mongolischen übersetzt von Renate Bauwe)
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