Uranchimeg Tsultemin
Herron School of Art+Design, Indiana University, USA. July 2023     
OtGO: Interaktive Malerei für den globalen Betrachter
OtGO: Immersive Painting for Global Viewer

-- The original text in English --
Wenn über Immersion und/in Kunst geschrieben wird, wird dies oft im Zusammenhang mit der virtuellen Realität und der Erfahrung mit digitaler Kunst verstanden. Der mongolische Maler OtGO (geb. 1981) zeigt mit seinen Gemälden jedoch einen anderen Ansatz. Seine vielschichtigen, farbenprächtigen und üppig verdichteten Kompositionen bestechen durch ihre absichtsvolle Komplexität: Visualität konstituiert hier, wie die Kunsthistorikerin Whitney Davis es ausgedrückt hätte, „ein Bild der Welt als Weltsehen“.1


Taifun by OtGO 2021-2022, acryl on canvas 200 x 150 cm
(Abb. 1) Taifun by OTGO 2021-2022, acryl on canvas 200 x 150 cm | Photo by Chloé Alyshea | «HUNNEN» – solo OtGO exhibition cova art gallery, Eindhoven NETHERLANDS 2022


Der erste Eindruck von OtGOs Arbeit ist die schiere Grandiosität der Bilder, mit oder ohne ihre Dimensionen. Seine Werke überwältigen den Betrachter mit ihrer Intensität an üppiger Figuration und fordern unterschiedliche Betrachtungsebenen heraus, angefangen von Panorama-Schnappschüssen aus der Ferne bis hin zur nahen und privaten Betrachtung zahlreicher Details. Im Taifun (Abb. 1) sieht man auf den ersten Blick eine Komposition aus ineinander verschlungenen Figuren, die zu einem visuellen Wirbel aus Pferdebewegungen konfiguriert sind.2 Die Dynamik der unendlichen Bewegung und die Farbanordnung treiben den Betrachter sofort in eine engere Auseinandersetzung mit dem Bild : Von einem panoramaartigen Eintauchen geht man zu einer privaten Erkundung über, die sich auf zahlreiche kleine Pferde konzentriert. Für einen gebildeten Betrachter, der mit mongolischen Motiven vertraut ist, basieren diese stilisierten Pferde auf Bildern mongolischer Petroglyphen und Felsmalereien, die das kulturelle Erbe des Künstlers sind. Das Gemälde erzeugt einen fesselnden optischen Effekt, der das Seherlebnis mühelos von einer Ebene des Eintauchens in eine andere versetzt, in einem permanenten hin und her, ohne großen Zwang, und der den Betrachter mühelos fesselt.


Triptych: The Last Supper –3/3 by OtGO 2020–2022, acryl on canvas 215 x 300 cm
(Abb. 2) Triptych: The Last Supper by OtGO | Inside the Studio: Work in Progress | Photo by Anna Wyszomierska

Als Künstler, der in der Mongolei geboren wurde, verwendet OtGO in seiner Kunst häufig Darstellungen von Pferden, ein verbreitetes Motiv bei vielen mongolischen Künstlern.3 Obwohl er in der Mongolei ausgebildet wurde, hat er sich über die Tradition hinweggesetzt und beschäftigt sich vielmehr mit globalen Fragen der Urbanisierung, mit kulturellem Verfall, Neoliberalismus und der anhaltenden Pandemie. Sein Triptychon, das nach einem bekannten biblischen Thema, dem Letzten Abendmahl (Abb. 2), betitelt ist, ist eine schockierende Darstellung aller möglichen und nicht einer bestimmten Kultur. Durch die Darstellung einer monströsen Gestalt eines alles beherrschenden Oktopus – einer Kreatur, die in der Heimat des Künstlers, der Mongolei, überhaupt nicht vorkommt – bietet das Werk auf den ersten Blick ein merkwürdiges Rätsel. Der bedrohliche Oktopus dominiert alle drei Kompositionen, doch bei näherer Betrachtung erkennt man, dass das Seeungeheuer aus unzähligen winzigen Affenfiguren besteht, die in einer langen Reihe an einem langen Tisch zusammensitzen, auf dem Teller, Gläser sowie menschliche Schädeln liegen. Sie halten die Schädel in ihren Händen und sind von nackten menschlichen Körpern und zahlreichen grauen menschlichen Gestalten umgeben, deren gespenstische Erscheinung zweifellos auf die Anwesenheit des Todes hinweist. Weitere Anzeichen für Tod und Tragödie sind Berge von menschlichen Schädeln, an denen die Affen im Beisein der gespenstischen Körper aktiv dabei sind, weitere Berge menschlichen Todes anzuhäufen und zu errichten. Der gigantische Kopf des Oktopus besteht aus SARS-CoV-2-Virusbildern, die die COVID-19-Pandemie verursacht haben und die nun alle drei Kompositionen durchdringen (Abb. 3). Die Visualität dieser Gemälde vermittelt uns ein Bild der Welt und der Weltaneignung4, eine von der Pandemie heimgesuchte Tragödie, in der keine Kulturen unterschieden werden und in der die biblische Linie als Ergänzung zur Weltanschauung verwendet wird, die sich mit dem Tod befasst. Die gigantische Größe dieses bis zu vier Meter langen Triptychons ist ein visueller Schrei nach den Folgen menschlichen Handelns, die seit seinem Ausbruch im Dezember 2019 weltweit zu einer enormen Zahl an Todesopfern im Zusammenhang mit dem Coronavirus geführt haben.


Triptych: The Last Supper –2/3 by OtGO 2020–2022, acryl on canvas 215 x 400 cm
(Abb. 3) Triptych: The Last Supper –2/3 by OtGO 2020–2022, acryl on canvas 215 x 400 cm











 












Triptych: The Galleys of Souls –2/3 by OtGO 2013–2021, acryl on canvas 215 x 400 cm
(Abb. 4) Slavery-1 | Triptych: The Galleys of Souls –2/3 by OtGO 2013–2021, acryl on canvas 215 x 400 cm


Tatsächlich bestehen die Gemälde von OtGO oft aus mehreren Kompositionen, die zusammen ein großes Ganzes bilden. Ein weiteres Beispiel für diesen Ansatz ist die Sklaverei (Abb. 4-5), wo mehrere große Leinwände diesem Thema in Verbindung mit Fragen der Gerechtigkeit gewidmet sind, wobei die Gruppe durch eine Reihe von Kunstwerken ergänzt wird, die in einer fortlaufenden Reihe angeordnet sind.


Prof. Dr. Uranchimeg Orna Tsultem. OtGO Studio Berlin. Photo by OtGO 2022
(Abb. 5) Slavery-2 | Slavery Narratives: The Atlantic slave trade & The Native Americans  by OtGO 2013–2023, acryl on canvas 215 x 1000 cm |  Prof. Dr. Uranchimeg Orna Tsultem. OtGO Studio Berlin. Photo by OtGO 2022


Dies ist eine kraftvolle Installation, die darauf abzielt, eine Erzählung des Themas und eine Hommage an das in der Vergangenheit Unterdrückte zu schaffen und in die turbulente Gegenwart zu projizieren. Ein Panoramablick auf die Installation zeigt eine Ansammlung von Gemälden, die in einer düsteren, dunkelroten Farbe dominieren und mit zahlreichen winzigen Bildmotiven gefüllt sind, darunter nackte menschliche Körper, Handabdrücke des Künstlers, unzählige Bisons, Berge von Büffelschädeln und Porträts von Native Americans (Abb. 6), die alle durch reale Ereignissen aus dem 19. Jahrhundert inspiriert wurden. OtGOs eigene Perspektive auf die Geschichte wird in einem großen Längsformat zusammengefasst: Die aus Afrika mitgebrachten Sklaven werden vom Künstler bei amerikanischen Indianern, die Bisons jagen, versammelt, und zwar genau an dem Ort, wo die Bisons von den neuen westlichen Siedlern ausgerottet wurden, um die indigene Bevölkerung zu kontrollieren. So die Siedler die Freiheit all dieser unterschiedlichen Gemeinschaften in ihrem Lebensraum beschneiden und sie ausnutzen. Die gesamte Komposition erfüllt fast den gesamten Raum mit diesen düsteren Gemälden, mit denen der Betrachter in gewisser Weise in den tragischen Geist der vergangenen Ära eintaucht, deren Nachwirkungen sich bis in unsere Gegenwart entfalten. Es gibt kein einfaches Entkommen aus diesem Raum: Der Betrachter ist gezielt von der Arbeit, die an allen vier Wänden des Raumes installiert ist, umgeben, um das Gefühl, von ihr absorbiert und überwältigt zu werden, dramatisch zu verstärken.5


detail: Slavery Narratives: The Atlantic slave trade & The Native Americans
(Abb. 6) Slavery-2, detail of a Native American | Slavery Narratives: The Atlantic slave trade & The Native Americans  by OtGO 2013–2023, acryl on canvas 215 x 1000 cm



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Quellen:

1) Whitney Davis, “Visuality and Pictoriality” in RES: Anthropology and Aesthetics, Autumn, 2004, No. 46, Polemical Objects (Autumn, 2004), pp. 9-31, esp. p. 10.
2) Es gibt mehrere interessante Arbeiten mit dem Motiv winziger Pferdefiguren. Eine frühere Version desselben Themas finden Sie beispielsweise hier:  www.otgo.info/Werke/Dalai.html
3) Weitere Beispiele finden Sie in neueren Arbeiten wie Andermatt (2022), siehe hier: www.otgo.info/Werke/Andermatt.html
4) Davis, 9
5)  Caro Verbeek diskutiert ein ähnliches Gefühl der verschlungenen Erfahrung eines Betrachters im Rahmen einer Installation von Henri Matisses aus Papier geschnittenen Tafeln, die an zwei Wänden des Raums angebracht sind. Siehe Verbeek, „Matisse's Installation of „La perruche et la sirène“ as an Environment: An „Immersive“ Experience“, Master Drawings, Sommer 2012, Bd. 50, Nr. 2, „Modern & Contemporary Drawings“ (Sommer 2012), S. 187–192.
6) Weitere Informationen zu den Auswirkungen von Jagd und Umweltkrisen auf Pinguine finden Sie in Mike Bingham, Threats to Penguins, hier veröffentlicht: www.penguins.cl/penguins-peril.htm
7) Ebenda. Laut Bingham wurden Pinguine auch als Treibstoff verwendet und zu Lebzeiten in brennendes Feuer geworfen.
8) Joseph Nechvatal, „Auf dem Weg zu einer immersiven Intelligenz“ in Leonardo Bd. 34, 2001, S. 417–422.
9) Hier bezieht sich Nechvatal auf Kendall Waltons Scheintheorie. Nechvatal, 418.
10) Ebenda.
11) Ebenda.
12) Davis, 10.

 

 




Ein ähnlicher Ansatz lässt sich in der großen Gemäldeserie „Antarktisches Panorama“ (Abb. 7) erkennen, welches aus zwölf einzeln gezeichneten Kompositionen besteht. Bewegt durch seine Erkenntnisse über die Geschichte der Pinguine, die bedroht sind und fast ausgerottet wurden, die im 19. Jahrhundert wegen ihres Fetts zur Herstellung von Kerzen gejagt wurden und die heute als Nahrungsmittel und Fischköder dienen, beschloss OtGO, den ausgebeuteten Kreaturen eine weitere „Hommage“ zu erweisen, wie er es selbst ausdrückte.


Antarctic Panorama by OTGO 2015-2016, acryl on canvas, 300 x 900 cm, Berlin. The 300 by 900 cm tall panorama painting consists of 12 equal-sized single paintings, each measuring 150 by 150 cm
(Abb. 7) Antarctic Panorama by OTGO 2015-2016, acryl on canvas, 300 x 900 cm. The 300 by 900 cm tall panorama painting consists of 12 equal-sized single paintings, each measuring 150 by 150 cm
Prof. Dr. Uranchimeg Orna Tsultem. OtGO Studio Berlin. Photo by OtGO 2022



In einer panoramaartigen Fernansicht offenbart die mehrteilige Installation Kompositionen aus kalten, hellen Farbtönen, zeigt Ströme zusammengedrängter Pinguine, die sich in ihren großen Kolonien zusammenschließen. Bekannt dafür, dass es sich um gesellige Vögel handelt, die in Kolonien brüten, sind sie flugunfähig und tolerant gegenüber der Anwesenheit von Menschen. All dies wird weiterhin gegen sie eingesetzt, um sie in großer Zahl zu jagen.
7 Aus der Ferne kann man die in vielfältigen Haltungen zusammengedrängten Pinguine als eine monumentale Installation aus schwarzen und weißen Linien betrachten, während die Nahaufnahme atemberaubende Details der individuellen, dichtgedrängten Vögel offenbart, die teilweise mit einer Vielzahl winziger Flecken gekennzeichnet sind und zusätzlich mit dünnen vertikalen Linien aus weißer Farbe überlagert werden. Ihre Augen sind durch leuchtende gelbliche Glanzlichter hervorgehoben – alarmierend und besorgniserregend für den Betrachter –, während ihre unzähligen Körper durch eine endlose Wiederholung schwarzer Linien scheinbar endlos vibrieren (Abb. 8). Ohne jegliche Abhängigkeit von digitalen Hilfsmitteln erzeugt der Künstler dennoch ein Gefühl der Virtualität durch das, was der Künstler Joseph Nechvatal als „optisch“ oder „eine ästhetische optische Wahrnehmung“ bezeichnet, mit dem er das einfühlsame Eintauchen in das Erlebnis dieser vibrierenden Visualität meint.8 Hier und insbesondere in seiner Installation „Slavery“ hat der Künstler, in Nechvatals Worten, ein ästhetisches, immersives Gehäuse geschaffen – ästhetisch und informativ intensiv –, das „zur ontologischen Selbstmodifikation durch die Teilnahme des Immersanten am kreativen Prozess einlädt.“9 Die Erfahrung hier ist nicht wie in VR-Räumen, und doch ist das „Ein- und Aus“-Spiel des Immersiven wohl immer noch in vollem Gange, mit dem ultimativen Ergebnis einer fokussierten Aufmerksamkeit auf das „innere, sich entwickelnde, selbstprogrammierbare Selbstsein“.10

Diese Arbeiten lassen uns mit Hilfe der optischen Wahrnehmung durch Schichten von Bildkonfigurationen hindurch navigieren, und durch die ständigen Veränderungen im Sehen, durch visuelle Vibrationen, hervorgerufen durch unzählige virtuelle Formen, die die Augen von winzigen zu monumentalen Proportionen bewegen, wird der Betrachter beharrlich in der „Entwicklung immer vollkommenerer Augen innerhalb eines Kosmos“ gehalten, in dem immer etwas mehr zu sehen ist.“
11

OtGO bewegt sich bewusst über kulturelle Grenzen hinaus und hin zu globalen Gesprächen, die erhellend und für jedes Publikum relevant sind. Er ermöglicht eine engagierte Zuschauerschaft und die Freude an den wechselnden Perspektiven, die sich durch die Installationen bewegen, ganz so, als wären sie in einer realen Welt. Die Visualität in seinen Werken lädt zu einer durchdringenden Betrachtung ein, die den Kreislauf der Wahrnehmung von „Form zu Symbol und vom Bild zum „Diskurs“, vom Sinnlichen zum Verständlichen und wieder zum Beginn“ auslöst.“12 Durch das ästhetische Eintauchen in die Kunst von OtGO kann das Publikum den Bildraum nie als Alternative, sondern als akute Realität erleben, in der der Betrachter jederzeit eine Stimme haben kann.


Antarctic Panorama, detail
(Abb. 8 detail of Antarctic Panorama by OTGO 2015-2016, acryl on canvas, 300 x 900 cm. The 300 by 900 cm tall panorama painting consists of 12 equal-sized single paintings, each measuring 150 by 150 cm





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